(Marga Voigt) Mitte letzte Woche las Walter Ruge im Alten Rathaus von Potsdam. Er ist Jahrgang 1915 und war als Kommunist unter den Nazis in die Sowjetuion emigriert, wo er in die Stalinschen »Säuberungen« geriet, 1941 zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt, 1954 rehabilitiert wurde und 1958 in die DDR zog. Im GNN-Verlag veröffentlichte er 2007 das Buch »Wider das Vergessen«, nachdem in Frankreich schon 2003 seine Erinnerungen an die sowjetische Gefangenschaft unter dem Titel »Prisonnier no 8403 » im Verlag Nicolas Phillipe erschienen waren. In Potsdam mit dabei war seine Co-Autorin und Übersetzerin, die Germanistin Anne-Marie Pailhès. Sie erzählte, daß sie in den neunziger Jahren versucht habe, Leute zu finden, die in der DDR aktiv in der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft (DSF) waren. Schnell hätte sie dabei bemerkt, daß die DSF für viele dieser Menschen eine sehr persönlich Angelegenheit gewesen war. So sei sie auch auf die Familie Ruge gestoßen, wobei Walter Ruge ihr angedeutet habe, er hätte über seine Zeit in der Sowjetunion eigene Texte verfaßt, die sie ihm dann in einem langen Prozeß nicht nur entlocken sondern auch veröffentlichen konnte. Schließlich fand sich dafür über dem Umweg über Frankreich auch eine interessierte Öffentlichkeit in Deutschland.
In »Wider das Vergessen« dokumentiert Ruge Gespräche mit Überlebenden der Leningrader Blockade durch die Wehrmacht 1942–1944. Während dieser grausamen 900 Tage war er selbst »gut verwahrt« in Omsk. Trotzdem sei in ihm ein unauslöschbares Gefühl der Scham für die Barbarei seiner Landsleute geblieben.
Er sprach auch über den Kniefall von Willy Brandt 1970 im Zentrum von Warschau. Dieser verkörpere das ganze Dilemma, denn Brandt war Nichttäter, hatte aktiv gegen den deutschen Faschismus gekämpft und trug dennoch die Scham über die Nazis in sich. Damit stehe das Leben kopf: Die Demut und Reue, zu der das deutscheVolk verpflichtet gewesen wäre, erbrachten diejenigen, die mit diesen Verbrechen nicht das Geringste zu tun haben, oft waren sie selbst Opfer.
Die offizielle Bundesrepublik kennt diese Demut nicht, im Gegenteil: Im nachhinein werden Tausende Widerstandskämpfer, Kommunisten, Interbrigadisten, Illegale totgeschwiegen. In Potsdam z. B., in Waldstadt II, wurden die Straßen nach Antifaschisten benannt. Walter Ruge zog 1981 in die Toni-Stemmler-Straße – nach Antonina Stemmler benannt, einer Krankenschwester, die 1936–38 in Spanien Verwundete pflegte. Seine Straße heißt jetzt »Zum Kahleberg«, es gibt auch einen »Moosfenn«, »Kiefernring« und »Ginsterweg«, anstelle der Namen von Potsdamer Antifaschisten. Mit dem Auslöschen von Namen, meint Walter Ruge, verlischt auch deren historisches Schicksal. Die deutschen Eliten blendeten diesen linken Widerstand gegen die Nazis einfach aus und kreierten statt dessen den »deutschen Widerstand«, die »Männer des 20. Juli 1944« – Nationalisten, die erst gegen Hitler aufmuckten, als der Krieg eindeutig verloren war, und eine rechte Diktatur im Sinn hatten.
Für Ruge zeigten die Stoßrichtungen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, ins Donezkbecken, nach Ploiesti und Baku, worum es den Eliten eigentlich ging – und bis heute gehe. Die Verbrechen an den Juden waren Bestandteil der Formierung des Herrenmenschen. Sechs Millionen Juden sind vernichtet worden; ebensoviele sowjetische Kriegsgefangene sind verhungert, jeder vierte Bewohner von Belorußland wurde ermordet, insgesamt starben 20 Millionen sowjetische Menschen. Auschwitz verjährt nicht, Oradour-sur-Glane verjährt nicht, Lidice verjährt nicht – da gibt es nichts zu verzeihen, gar einen Schlußstrich zu ziehen.
Doch der »kommunikative Optimist«, wie Anne-Marie Pailhès Walter Ruge bezeichnete, las auch Nach-Wende-Erlebnisse von seinen Reisen in den hohen Norden und an den Baikal. Es klang wie eine Liebeserklärung an Rußland.