POTZLOW Der Marcel muss keinen schlechten Eindruck gemacht haben in Potzlow. “Eigentlich ein ruhiger Junge”, sagt die Verkäuferin im Dorfladen. Einer “mit richtig viel Angst vorm großen Bruder”, meint eine Jugendbetreuerin. Der Marco, der 23-Jährige, der seit drei Wochen in Wulkow im Gefängnis sitzt, weil er einen Schwarzafrikaner krankenhausreif geprügelt und getreten hat, muss seinen sechs Jahre jüngeren Bruder Marcel in die Sache reingezogen haben, glaubt man in dem Dorf am Oberuckersee, wenige Kilometer südlich von Prenzlau. Anders kann sich auch Mike Lemke die Sache nicht erklären, die seit wenigen Tagen ein gesamtes Dorf lähmt.
Doch die Sache am 12. Juli verlief anders, als alle vermuten. “Der 17-jährige Bruder stand bei der Tat im Vordergrund”, betonte Neuruppins Leitender Oberstaatsanwalt Gerd Schnittcher gestern. Erstmals deutete der Chefankläger zudem an, wie der 16-jährige Sonderschüler Marinus Schöberl auf der verlassenen LPG von den drei jungen Neonazis umgebracht wurde: “Mit mehreren Würfen auf den Kopf mit einem schweren Stein.” Die beiden 17 Jahre alten Tatverdächtigen, Marcel Sch. und Sebastian F., hätten dies in ihren Vernehmungen übereinstimmend beschrieben. Nur Marco Sch. schweigt weiter zu der Tat, die Schnittcher “viehisch” nennt.
Offenbar hatte Marinus Schöberl keine Chance, jenen Freitagabend im Juli zu überleben. “Warum gerade er?”, fragten Vernehmungsbeamte. Antwort: “Das spielte keine Rolle, wenn es ein anderer gewesen wäre, dann der.” Offenbar paarten sich Mordlust und Hass auf alle, die nicht dem Bild der Täter vom deutschen Mann entsprachen. Marinus trug extrem weite Hosen und hatte sich die Haare blond gefärbt.
Manches kann sich der Staatsanwalt auch nach der Vernehmung nicht erklären. Wieso habe in dem Dorf niemand die Polizei bei der Suche nach dem vermissten Marinus Schöberl unterstützt, frage er sich. Drei bis fünf Personen, die nicht an der Tat beteiligt waren, müssten zumindest geahnt haben, dass der Junge umgebracht wurde. Sie waren anwesend, als er zunächst in zwei Wohnungen gequält wurde. “Wir prüfen auch eine Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung”, sagte Schnittcher.
Dass der Mord nach monatelangem Schweigen überhaupt entdeckt wurde, erscheint so unfassbar wie die Tat. Einer der beiden 17-jährigen Tatverdächtigen hatte Ende vergangener Woche mit zwei Bekannten um 25 Euro gewettet, dass er in der Lage sei, ihnen eine frisch vergrabene Leiche zu zeigen. Schnittcher: “Der wollte Geld verdienen.” Mit einer Axt habe der Jugendliche die Leiche in der Jauchegrube freigelegt. Einem Bekannten, der das Verbrechen anzeigen wollte, drohte der Täter: “Dann werde ich dir mit der Axt den Kopf spalten.”
Der Schock bei den Potzlowern sitzt tief. Fragen beantworten sie meist mit Gegenfragen. Eine Erklärung, warum in ihrer Mitte die entsetzliche Tat geschehen und so lange geheim gehalten werden konnte, haben sie nicht — allenfalls ein Achselzucken. “Ich bin bestürzt”, sagen manche noch, bevor die Stimme versagt. Peter Feike, der Bürgermeister, bemüht sich, dass sein Dorf nicht plötzlich als rechtsextreme Hochburg stigmatisiert wird. Gegen den Vorwurf, in Potzlow hätten die Rechten das Sagen und das Kinder- und Jugendfreizeitzentrum im Ortsteil Strehlow sei deren Domizil, wehren sich alle vehement.
Worte finden die wenigsten — wie Mike Lemke. Bei Streitigkeiten, sagt er, gebe es im Dorf auch “mal was auf die Fresse”. “Aber dann ist bisher immer wieder Friede, Freude, Eierkuchen gewesen. Dass so was passiert, kann ich bis jetzt nicht glauben. Ich wollte das erst gar nicht glauben, aber am Sonntag hat mir ein Jugendlicher aus dem Dorf von dem schrecklichen Fund erzählt. Ich habe ihn dann zusammengeschissen, weil er und andere im Dunkeln hier rumgeistern.”
“Es ist einfach unbeschreiblich”, sagt Jugendbetreuerin Liane Klützke, “viele Leute sind völlig fertig mit den Nerven. Vor allem um jene vier Kinder kümmern wir uns besonders, die am Sonntagabend am Fundort der Leiche von Marinus waren.” Bevor die Kriminalpolizei den Tatort absperren konnte, hatten schon Jugendliche, die von dem Verbrechen gehört hatten, es aber nicht glauben wollten, in der Grube gebuddelt.
Jugendsozialarbeiterin Petra Freiberg ist persönlich tief erschüttert. Seit fünf Jahren setzt sie sich für die Jugendlichen ein. Für die mobile Jugendarbeit zur Vermeidung rechter Gewalt steht sie mit ihren vier Mitarbeitern oft allein auf weiter Flur. Sie empfinde das Verbrechen als Niederlage, sagt Petra Freiberg. “Für mich persönlich, für die Kommunalpolitik und darüber hinaus. Was muss in dieser Gesellschaft eigentlich noch passieren, damit etwas passiert?”
Blauer Himmel, klare Luft, der Oberuckersee blinkt im Glanz der Herbstsonne — Potzlow gestern. Die verfallenen Hallen und Ställe der verlassenen LPG, wo Marinus Schöberl zu Tode gequält und verscharrt wurde, waren einmal ein beliebter Treffpunkt vieler Kinder und Jugendlicher aus dem Dorf.