Im Prozess um den Übergriff auf den dunkelhäutigen Potsdamer Ermyas M. werden heute die Plädoyers gehalten -
— und es läuft auf einen Freispruch für die Angeklagten hinaus
POTSDAM. Am Anfang war alles so klar — weil viele Politiker, manche Medien und auch die Bundesanwaltschaft bald nach dem Übergriff auf den dunkelhäutigen Potsdamer Ermyas M. schon zu wissen glaubten, wer die Täter waren und dass es sich wohl um Neonazis handeln müsse.
Doch nun werden die Angeklagten, die Ermyas M. in der Nacht zum Ostersonntag 2006 attackiert haben sollen, aller Wahrscheinlichkeit nach freigesprochen. Selbst die Staatsanwaltschaft könnte heute am 19. Verhandlungstag, wenn im Saal 009 des Potsdamer Landgerichtes die Plädoyers gehalten werden, auf Freispruch plädieren. Und dies hält inzwischen selbst Rechtsanwalt Thomas Zippel, der Ermyas M. als Nebenkläger vertritt, für angemessen. Im Zweifel für die Angeklagten, dürfte es dann nach 18 Verhandlungstagen und der Vernehmung von mehr als 60 Zeugen heißen.
Denn in diesem aufwändigen Indizienprozess konnte die Staatsanwaltschaft kaum Beweise vorlegen, die für eine Täterschaft von Björn L., einen 30-jährigen Gebäudereiniger und Gelegenheitstürsteher, oder Thomas M., einen 31-jährigen Behindertenbus-Fahrer, sprechen.
Was bleibt, ist eine Straßenschlägerei, deren Hintergründe wohl nie aufgeklärt werden: In der Nacht zum 16. April trifft Ermyas M. kurz vor vier Uhr morgens an der Haltestelle Potsdam-Charlottenhof auf zwei Männer. Der angetrunkene Deutsch-Äthiopier versucht gerade, seine Frau über Handy zu erreichen. Ihre Mailbox zeichnet nun auf, wie Ermyas M. eine Person als “Schweinesau” bezeichnet. Dann hört man, wie sich zwei Personen nähern, einer sagt: “Scheiß Nigger”. Laut Anklage sollen sich die beiden Männer dann abgewandt haben, worauf Ermyas M. versucht habe, einen der Männer von hinten zu treten. Der Mann dreht sich um und verletzt den Agraringenieur mit einem Faustschlag lebensbedrohlich.
“Innere Sicherheit” in Gefahr
“Glatzköpfe prügelten Familienvater ins Koma!”, titelt die Bild-Zeitung. Der Generalbundesanwaltschaft sieht die “innere Sicherheit” in Gefahr und ermittelt wegen Mordversuchs. Wichtigstes Beweismittel ist der Mailbox-Mitschnitt, auf dem die markant hohe Stimme eines Tatbeteiligten zu hören ist.
Fünf Tage nach dem Übergriff werden die beiden Angeklagten auf Grund eines einzigen Hinweises von einem Spezialkommando festgenommen — Thomas M. wird mit einem Elektroschockgerät ruhig gestellt, Björn L. aus seinem Auto gezerrt. Mit verbundenen Augen werden sie per Hubschrauber zur Bundesanwaltschaft geflogen.
In andere Richtungen wird fortan nicht mehr ermittelt, stattdessen sollen Stimmproben, Verhöre und Gegenüberstellungen die Schuld der beiden Männer beweisen.
Nach fünf Wochen aber gibt Deutschlands oberster Ankläger die Ermittlungen wieder ab — weil keine Mordabsicht mehr unterstellt wird. Inzwischen ist Ermyas M. aus dem Koma erwacht und zu einer öffentlichen Figur geworden.
Als die Potsdamer Staatsanwaltschaft schließlich Anklage gegen die beiden Männer erhebt, ist von rassistischen Motiven nicht mehr die Rede. Björn L., wegen seiner hohen Stimme “Pieps” genannt, wird nun gefährliche Körperverletzung vorgeworfen, Thomas M. Beleidigung und unterlassene Hilfeleistung. Organisierte Neonazis sind sie nicht. Wegen der umfangreichen Ermittlungsakten entschließen sich die Richter, die Anklage vor dem Landgericht zu verhandeln. Ähnliche Fälle gehen sonst ans Amtsgericht.
Doch die Anklage fällt an jedem Verhandlungstag des Prozesses Stück für Stück in sich zusammen: Augenzeugen widersprechen sich. Das Opfer selbst kann sich “im Großen und Ganzen an gar nix” erinnern. Die Handy-Ortung beweist nicht, dass Björn L. am Tatort war, und dieser bestreitet es weiterhin. Ein Belastungszeuge, dem Björn L. die Tat in der U‑Haft gestanden haben soll, verweigert die Aussage. Eine andere Zeugin, eine Arbeitskollegin, will sich vor Gericht nicht mehr daran erinnern, die Stimme des Hauptangeklagten erkannt zu haben. Schließlich räumt sie ein, bedroht worden zu sein. Im Gerichtssaal sitzen immer wieder kräftige Bekannte von Björn L., Mitglieder eines Rockerklubs.
Das Hauptbeweismittel
Die Anklage bricht schließlich völlig in sich zusammen, als es um das Hauptbeweismittel, den Mailbox-Mitschnitt, geht: Denn das Stimmgutachten einer LKA-Expertin stellt fest, dass die Stimme von Björn L. nur “wahrscheinlich” identisch mit der auf dem Mailbox-Mitschnitt ist. Oberstaatsanwalt Rüdiger Falch veranlasst daraufhin ein weiteres Stimmgutachten, das Björn L. erneut entlastet.
Der Oberstaatsanwalt sitzt an allen Verhandlungstagen neben seiner Kollegin Juliane Heil, die die Anklageschrift verfasst hat. Wohl als Aufpasser. Falch macht die Ankläger in Potsdam zuweilen fast lächerlich, in seinem Drang endlich etwas Belastbares vorzulegen. So fleht er eine DNA-Expertin an, ob es nicht wenigstens “populärwissenschaftlich” möglich sei, Beweise zu liefern, wo sie nach allen Regeln ihres Fachs keinen Beweis finden kann. Die Expertin verneint fassungslos. Die Verteidiger von Björn L., Matthias Schöneburg und Karsten Beckmann, schütteln in diesem Moment nur ihre Köpfe.
Trotz aller Vergeblichkeit, Licht in das Dunkel jener Nacht zu bringen, hat der ungewöhnliche Prozess am Ende auch ein positives Resultat: Denn die Justiz hat die Möglichkeit einer rassistischen Attacke ernst genommen, geprüft und kommt angesichts der vorgelegten Beweismittel wohl zu einer deutlich anderen Einschätzung.
Auch wenn am Anfang alles so klar schien.