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Ausstellung: “Tag um Tag — Potsdam 1945”

(VOLKER OELSCHLÄGER) Am 22. Mai wurde der Unter­richt wieder aufgenom­men. Im Schicht­be­trieb. Denn manche Schulen waren zer­stört. Andere hat­te man zu Altenheimen oder Lazaret­ten umfunk­tion­iert. Mehrere Tage hat­te der Kampf um Pots­dam geto­bt, dessen Innen­stadt schon vorher, in jen­er Bomben­nacht vom 14. April, schw­er zer­stört wor­den war. Am 23. April, hieß es gestern im Pots­dam-Muse­um, war Babels­berg kom­plett in der Hand der Roten Armee, am 28. April auch das Stadtzen­trum um den Alten Markt herum. Am 30. April, acht Tage vor der bedin­gungslosen Kapit­u­la­tion der let­zten deutschen Trup­pen, bekam Pots­dam mit Friedrich Beste­horn, Ver­wal­tungs­beamter, eben noch NS-Parteigenosse, den ersten Nachkriegsbürgermeister. 

“Tag um Tag — Pots­dam 1945” ist der Titel eines Ausstel­lung­spro­jek­tes, mit dem das Pots­dam-Muse­um 60 Jahre danach eine Ahnung, ein Gefühl von dem ver­mit­teln will, was damals in der Stadt geschah. Tag um Tag soll mit den so genan­nten kleinen Din­gen des All­t­ags gezeigt wer­den, wie es sich damals über­lebte. Zusam­men mit den Tages­be­fehlen, den Wet­ter­bericht­en. Noch immer wer­den Exponate gesucht. Ende ver­gan­genen Jahres veröf­fentlichte das Muse­um eine erste Bitte um Mith­il­fe: Rund 80 Bürg­er melde­ten sich mit Fun­den, Doku­menten, Gegen­stän­den aus jen­er Zeit. So wie Horst Goltz, der sein Kon­fir­man­den­hemd ins Muse­umshaus Benkert­straße 3 brachte, das sie 1945 aus der Sei­de eines Fallschirms näht­en, an dem vorher eine Leucht­bombe auf die Stadt zuschwebte. 

Die Ausstel­lung vom 23. März bis zum 4. Sep­tem­ber soll gewis­ser­maßen zwei­gleisig sein. Mit Doku­menten, Schrift­stück­en, Flug­blät­tern, Verord­nun­gen, Zeitun­gen, Tage­büch­ern auf der einen Seite und einem großen Erleb­nis­bere­ich auf der anderen. Auf dem Muse­umshof wollen sie die Not­baracke für Luftkrieg­sopfer wieder auf­bauen, die vor zwei Jahren neben der Stiftungs­buch­hand­lung vor weit­erem Ver­fall bewahrt wurde und sei­ther in Einzel­teilen demon­tiert im Muse­ums­de­pot lagert. Weit­er hin­ten auf dem Grund­stück soll für die Dauer der Ausstel­lung ein Kartof­fel­beet angelegt wer­den, das von Jugendlichen gepflegt wird. Eine Erin­nerung an die Nachkriegszeit, als selb­st auf dem heuti­gen Platz der Ein­heit Ess­bares angepflanzt wurde. 

Gesucht wer­den etwa noch einige jen­er Hin­den­bur­glichter genan­nten, selb­st gebaut­en Leuchter, alle Infor­ma­tio­nen über Neulehrer im Jahr 1945, umgear­beit­ete Mil­itär­män­tel, Ein­beru­fungs­be­fehle des Jahrgangs ′27, jenes let­zten Aufge­botes der Wehrma­cht, Fotografien. Und natür­lich Anek­doten. Wer, als Beispiel, weiß schon noch, dass die Uhren nach dem Kriegsende auf Anord­nung der neuen Admin­is­tra­tion fürs erste zwei Stun­den vorgestellt wur­den — auf Moskauer Zeit. 

Kartof­felpuffer mit Vogelmiere

Das Pots­dam-Muse­um will an 1945 erin­nern – mit All­t­ags-Uten­silien, die oft beim Über­leben halfen

(Gui­do Berg) “Elbe über­quert. USA-Panz­er 120 Km vor Berlin” lautet die Schlagzeile der Alli­ierten-Flug­blattzeitung “Nachricht­en für die Truppe” Nr. 362 vom 13. April 1945. Tags darauf wird sie aus Flugzeu­gen abge­wor­fen – zusam­men mit den Bomben, die das Stadtschloss und die Gar­nisonkirche schw­er beschädi­gen und laut dem Lokalhis­torik­er Hans-Wern­er Mihan (“Die Nacht von Pots­dam”) 1593 Bomben­tote sowie etwa 200 Ver­mis­ste fordern. Bit­tere Ironie: Das Flug­blatt enthält eine Mel­dung, in der dem Pots­damer Kirchen­musikdi­rek­tor Otto Beck­er zum 75. Geburt­stag grat­uliert wird. Dieser betreut das berühmte Glock­en­spiel der Gar­nisonkirche, das bei dem Bombe­nan­griff zer­stört wurde. Der damals 15-jährige Nachricht­en­helfer Horst Goltz hat Exem­plare dieser Flug­blät­ter einge­sam­melt und für die Nach­welt auf­be­wahrt. Seine Doku­mente, Tage­buch-Aufze­ich­nun­gen sowie die gesam­melten All­t­ags­ge­gen­stände viel­er weit­ere Pots­damer, die sie aus dem Schick­sal­s­jahr 1945 auf­be­wahrt haben, wer­den Exponate der Ausstel­lung “Tag um Tag – Pots­dam 1945” des Pots­dam-Muse­ums sein. “Es war ein trau­ma­tis­ches Jahr für Pots­dam”, erk­lärte gestern Muse­ums-Kura­torin Edel­traud Volk­mann-Block bei der Vorstel­lung des Pro­jek­ts. “Tag um Tag” soll es nachgeze­ich­net wer­den, denn Tag um Tag hat­ten die Pots­damer vor 60 Jahren um ihr Über­leben zu kämpfen, umriss Muse­ums-Mitar­beit­er Hannes Wit­ten­berg das Konzept. So entste­he ein “Pots­damer Tage­buch” des Jahres 1945. Kura­torin Volk­mann ‑Block: “Jeden Tag ver­suchen wir mit einem Ausstel­lungsstück zu doku­men­tieren”. Zudem soll so das Leben der Pots­damer in den Ruinen und Barack­en nach Kriegsende ver­an­schaulicht werden. 

Im Hof des Ausstel­lung­sortes Benkert­straße 3 wird eine orig­i­nale zu jen­er Zeit für Luftkrieg­sopfer errichtete Baracke aufgestellt. Vor zwei Jahren war sie durch das Pots­dam-Muse­um aus der Guten­bergstraße gebor­gen wor­den, berichtet Wit­ten­berg. Zur Eröff­nung am 23.März wird ein Kartof­fel­beet angelegt und zum Ausstel­lungsende am 4. Sep­tem­ber abgeern­tet. Schulk­lassen pfle­gen das Beet auf dem Hof das Jahr über. Hin­ter­grund: In der schlecht­en Zeit herrschte Hunger­snot, sog­ar auf dem Platz der Ein­heit baut­en die Pots­damer Kartof­feln an. 

78 sehr per­sön­liche Gegen­stände aus dem Jahr 1945 haben Pots­damer einen Aufruf fol­gend bis­lang für die Ausstel­lung zur Ver­fü­gung gestellt. Beispiel­sweise “Ernährung­shil­fen” – Kochbüch­er, die sich etwa dem The­ma “Wildgemüse als Zusatz­nahrung” stellen und “Kartof­felpuffer mit Vogelmiere” empfehlen. Weit­ere Vit­a­m­inträger vom Weges­rand: Brennnes­seln, Bre­itveg­erich, Huflat­tich, Melde oder Geitz­fuß. Ein ander­er Rat­ge­ber ver­sucht “zeit­gemäße Bro­tauf­striche” schmack­haft zu machen. 

Not macht erfind­erisch: Aus Fallschirm­stof­fen fer­tigten die Pots­damer Klei­der. Ein Leit­faden für den Han­dar­beit­sun­ter­richt in der Schule legt zur Frage “Wie spare ich Geld und Punk­te?” nahe: “Bessere Klei­der möglichst unsicht­bar aus”. Unbe­d­ingt sehenswert ist das Pup­pen­stuben­mo­bil­iar, dass ein Vater sein­er Tochter bastelte – der im Bauhausstil gefer­tigte kleine Stahlrohrstuhl sieht aus, als stamme er von Mies van der Rohe, begeis­tert sich Wit­ten­berg. Kleine Spielzeug-Kampf­flugzeuge wur­den erst jüngst in einem zugeschüt­teten Bomben­trichter ent­deckt – dor­thin versenk­ten die Leute beim Her­an­na­hen der Roten Armee ab 26. April 1945 Vieles, was sie in den Augen der rus­sis­chen Sol­dat­en hätte kom­pro­mit­tieren kön­nen. Ein von “Dr. med. H. Goerke” aus­gestell­ter Schein für die Typhus-Schutz­imp­fung warnt “Bei Nichter­scheinen zur Schutz­imp­fung erfol­gt die Entziehung der Lebens­mit­telka­rten”. Echte Lebens­mit­telka­rten sind laut Kura­torin Volk­mann-Block noch nicht abgegeben wor­den – was auch wenig ver­wun­dert, denn die wur­den damals drin­gend zum Über­leben gebraucht. Vorhan­den sind dage­gen Muster mit der Auf­schrift “Brot” oder “Fett” aus der Druck­erei Rüss in der Lin­den­straße. Ein rus­sis­ches Alpha­bet ver­sucht den Pots­damern damals das kyril­lis­che Alpha­bet zu erk­lären. Was wenige noch wis­sen: Nach der Beset­zung der Stadt und bis zum Okto­ber 1945 galt in Pots­dam die Moskauer Zeit – dass heißt Mittel€päische Zeit plus zwei Stun­den, informiert die Kura­torin. Wenn es auf Schloss Char­lot­ten­hof im amerikanis­chen Sek­tor in Berlin-West 18Uhr war, zeigten die Uhren auf Schloss Sanssouci 20 Uhr. 

Das Pots­dam-Muse­um benötigt weit­ere Exponate, die von Pots­damer bewahrt wur­den. Etwa ein so genan­ntes “Hin­den­burg-Licht” – eine Papp­schale mit ein­er Wachskerze, ver­wen­det in Luftschutzkellern. Es fehlen auch Mate­ri­alien zu Neulehrern von 1945, Ein­beru­fungs­be­fehle des Jahrgangs 1929 – von Sol­dat­en, die als 16-Jährige einge­zo­gen wur­den, zudem Klei­der, umgenäht aus Militärmänteln,
Ersatz­seife, Ersat­zlebens­mit­tel, Arbeits­bescheini­gun­gen oder auch Papiere neuge­grün­de­ter Parteien.

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