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Flucht & Migration

Ausweitung der Migrationssozialarbeit

Offen­er Brief zur Per­spek­tive der Migra­tionssozialar­beit als Fach­ber­atungs­di­enst in Brandenburg
 
Sehr geehrter Herr Min­is­ter­präsi­dent Dr. Woidke,
sehr geehrte Frau Min­is­terin Golze,
 
wir unter­stützen nach­drück­lich die mit dem Lan­desauf­nah­mege­setz beschlossene Ausweitung der Migra­tionssozialar­beit. Schutz­suchende Men­schen sind in vie­len Lebensla­gen auf eine kom­pe­tente Beratung angewiesen, die sie dabei unter­stützt, ihre Inter­essen und Bedürfnisse durchzuset­zen. Die über­re­gionalen und auch einzelne regionale Flüchtlings­ber­atungsstellen in Bran­den­burg brin­gen diese Kom­pe­ten­zen mit und haben in ihrer langjähri­gen Arbeit eine sehr gute Ver­net­zung vor Ort aufge­baut. Das Lan­desauf­nah­mege­setz übergibt die Bere­it­stel­lung der Migra­tionssozialar­beit als Fach­ber­atungs­di­en­stallerd­ings in die Hände der Land­kreise und kre­is­freien Städte, wom­it aus unser­er Sicht einige Prob­leme ver­bun­den sind.
Die erfol­gre­iche, in vie­len Jahren gewach­sene und vor Ort gut ver­ankerte Arbeit der beste­hen­den unab­hängi­gen und über­re­gion­al arbei­t­en­den Beratungsstellen wird mit der Kann-Bes­tim­mung in § 12 Abs. 2 LAufnG ganz real aufs Spiel geset­zt, wie erste Erfahrun­gen bere­its jet­zt zeigen. Da kein lan­de­sein­heitlich­es Ver­fahren vorge­se­hen ist, dro­ht den beste­hen­den Struk­turen in ersten Land­kreisen die Entziehung ihrer Exis­ten­z­grund­lage – etwa in Ober­hav­el, wo der Land­kreis eine Gesellschaft in eigen­er Träger­schaft gegrün­det hat, ohne das beste­hende Ange­bot zu beacht­en. In anderen Land­kreisen ist eine Über­tra­gung auf Träger erwart­bar, die enge Verbindun­gen zu Poli­tik und Ver­wal­tung pfle­gen und kaum prak­tis­che Erfahrun­gen in der Flüchtlingssozialar­beit vor­weisen – das bish­erige erfol­gre­iche Konzept wird nicht aus­geweit­et, son­dern unterhöhlt.
Wir wollen das an zwei aus­gewählten Punk­ten verdeutlichen:
 
Alles aus ein­er Hand?
Die Land­kreise und kre­is­freien Städte sind neben ihrer Zuständigkeit für die Migra­tionssozialar­beit als Fach­ber­atungs­di­enst häu­fig auch für die Unter­bringung – oft in Gemein­schaft­sun­terkün­ften – und mit den
Aus­län­der­be­hör­den auch für den Vol­lzug des Aus­län­der­rechts zuständig. Beratungsar­beit, die immer die indi­vidu­ellen Bedürfnisse von Rat­suchen­den in den Mit­telpunkt stellt, wird unter den Zweifel gestellt, dass eine – ver­meintliche oder tat­säch­liche – Abhängigkeit der Beratungsstelle vor­liege. Es kann zu Inter­essens- und Loy­al­ität­skon­flik­ten mit dem Arbeit­ge­ber kom­men, ggf. unbe­queme Beratungsar­beit, etwa wo es um das Sozialamt oder die Aus­län­der­be­hörde geht, wird erschw­ert bzw. unmöglich gemacht. Es ist zu erwarten, dass das Ver­trauensver­hält­nis zu Geflüchteten und vielfach auch zu ehre­namtlichen Begleiter_innen, Dolmetscher_innen und anderen Unterstützer_innen auf­grund der Neustruk­turierung maßge­blich und bleibend gestört wird.
Bere­its in ihrem offe­nen Brief vom 14. Dezem­ber 2015, als das LAufnG erst im Entwurf vor­lag, hat­ten die flüchtlingspoli­tis­chen und Willkom­mens-Ini­tia­tiv­en im Land Bran­den­burg dazu geschrieben:
„Unsere Erfahrun­gen mit Ent­las­sun­gen engagiert­er Sozialar­bei­t­erIn­nen und Bera­terIn­nen in den Land­kreisen lassen uns um unab­hängige Beratung fürcht­en. Eine ver­trauenswürdi­ge Beratungsstelle muss auch gegenüber der Prax­is der Aus­län­der­be­hörde kri­tisch sein kön­nen. Wenn sie struk­turell von der Insti­tu­tion abhängig ist, die sie kri­tisieren soll, entste­hen Inter­essenkon­flik­te. Gute Beratung ist unser­er Erfahrung nach eines der häu­fig­sten Bedürfnisse von Geflüchteten. Die gle­iche Erfahrung machen diejeni­gen von uns, die an Erstauf­nah­meein­rich­tun­gen tätig sind.“

Subsidiarität!

Wir schließen uns der Ein­schätzung der LIGA der freien Wohlfahrt­spflege an, die in der Kann-Regelung eine Abkehr vom Sub­sidiar­ität­sprinzip sieht – der Staat soll erst dann tätig wer­den, wenn in der Vielfalt der Träger­land­schaft nie­mand gefun­den wer­den kann, der/die das Ange­bote ermöglicht. Wir betra­cht­en mit Sorge, wie immer neue Ver­wal­tungsstruk­turen aus dem Boden sprießen, und zwar längst nicht nur in der Beratung von Asyl­suchen­den und Gedulde­ten. Durch die zu befürch­t­ende Umkehr vom Prinzip vielfältiger, freier und vor allem unab­hängiger Pro­file in der Beratungsar­beit wäre ein Qual­itätsver­lust zu befürcht­en, der dem Geist des Grundge­set­zes widerspricht.
 
Beratung im Inter­esse von Asyl­suchen­den und Gedulde­ten: unab­hängig und parteiisch!
Vor diesem Hin­ter­grund wollen wir Sie ein­dringlich darum bit­ten, nicht nur eine ziel­grup­pen­spez­i­fis­che, son­dern vor allem eine ziel­grup­pen­gerechte Migra­tionssozialar­beit als Fach­ber­atungs­di­en­stin Bran­den­burg sicherzustellen. Die „aus ihrer Auf­nahme- und Aufen­thaltssi­t­u­a­tion begrün­de­ten beson­deren Lebensla­gen“ von Asyl­suchen­den und Gedulde­ten machen es ger­adezu erforder­lich, für die in § 12 LAufnG beschriebe­nen Auf­gaben /keine/kommunale Träger­schaft zu ermöglichen, son­st ste­ht nicht nur die langjährige Exper­tise der
bish­eri­gen Berater_innen auf dem Spiel, son­dern der Sinn des ganzen Unter­fan­gens. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Inter­essen von Schutz­suchen­den und kom­mu­nalen Ver­wal­tun­gen nicht zusam­men­fall­en, sich oft sog­ar wider­sprechen. Beratungsar­beit muss stets partei­isch im Sinn der Rat­suchen­den sein.
Diese Beratung muss auch und ger­ade das Recht auf Infor­ma­tion über den Ver­lauf des Asylver­fahrens sowie behördliche Entschei­dun­gen, die die Per­son unmit­tel­bar betr­e­f­fen, umfassen.Dazu gehören aber auch das Recht auf Rechts­be­helfe und unent­geltliche Rechts­ber­atung und ‑vertre­tung in Rechts­be­helfsver­fahren sowie das Recht auf unent­geltliche Erteilung von rechts- und ver­fahren­stech­nis­chen Auskün­ften, das Recht auf Begleitung zu Anhörun­gen beim BAMF durch eine_n Rechtsanwält_in oder „son­sti­gen nach nationalem Recht zuge­lasse­nen oder zuläs­si­gen Rechts­ber­atern“ [1].
Dies ist Schutz­suchen­den in Bran­den­burg nur dann möglich, wenn sie einen Zugang zu ein­er Beratung haben, von der sie nicht nur sachkundig, son­dern auch unab­hängig von Inter­essen Drit­ter – d.h. auch///*weisungsungebunden*/– über ihre Pflicht­en im Asylver­fahren, aber auch über andere sie betr­e­f­fende rechtliche Regelun­gen informiert und berat­en wer­den. Die Wohlfahrtsver­bände in Bran­den­bur­gund freie Träger­bi­eten seit vie­len Jahren eine solche Beratung an, weil ins­beson­dere im ländlichen Raum Fachanwält_innen fehlen. Sie berück­sichti­gen dabei Qual­itäts­stan­dards und die Bes­tim­mungen des
Rechtsdienstleistungsgesetzes.
Wir appel­lieren deswe­gen an Sie, alles Ihnen Mögliche zu tun, um die bish­eri­gen unab­hängi­gen Beratungsstruk­turen in ihrer Exis­tenz zu sich­ern und für die neu aufzubauen­den Struk­turen zu gewährleis­ten, dass konzep­tionell, per­son­ell und insti­tu­tionell /Unabhängigkeit/gegeben ist. Die ausste­hen­den Verord­nun­gen zum LAufnG sollen unter allen Umstän­den dazu genutzt wer­den, die Qual­ität der Beratung sicherzustellen.
Mit fre­undlichen Grüßen
Flüchtlingsrat Brandenburg
 
 
Dieser Brief wird unter­stützt von:
Barn­imer Kam­pagne „Light me Amadeu“, Eberswalde
ESTArup­pin e.V.
Evan­ge­lis­che Jugend Berlin-Bran­den­burg-schle­sis­che Oberlausitz
Far­fal­la, Waßmannsdorf
Flu­Mi­Co – Flucht & Migra­tion Cottbus
Flüchtling­shil­fe Großbeeren e.V.
Hen­nigs­dor­fer Ratschlag
Ini­tia­tive Barn­im für alle
Kon­takt- und Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt, Bernau
Lan­desju­gen­dring Bran­den­burg e.V.
Net­zw­erk Flucht und Migra­tion Stadt Guben
Per­leberg hilft
Vielfalt statt Ein­falt – für ein fre­undlich­es Frank­furt (Oder)
Willkom­men in Fürstenberg
Willkom­mensini­tia­tive Joachimsthal
Willkom­men in Oberhavel
Willkom­men in Oberkrämer, Leege­bruch und Velten
Willkom­men in Oranien­burg e.V.
Willkom­men in Wandlitz/AG Basdorf
Willkom­men in Zehdenick
Pfar­rer Andreas Domke, Vor­sitzen­der der Syn­odalen AG „Flucht und
Migra­tion“ des Kirchenkreis­es Oberes Havelland
Angela Rößler, Potsdam-Konvoi
Annelies Rack­ow, Vere­in zur Förderung der Leben­squal­ität VFL-Bautzen
e.V., Schlieben
Bär­bel Böer, Flüchtlingsnet­zw­erkko­or­di­na­tion, Bran­den­burg an der Havel
Franziska Kusserow, Potsdam-Konvoi
Klaus Kohlen­berg, Freie Asyl­suchen­den-Beratungsstelle in Oranienburg-Lehnitz
Mar­i­anne Strohmey­er, Multitudeinitiative
Math­ias Tretschog, Schluss mit Hass
Rain­er E. Klemke, Willkom­men­steam des Bürg­ervere­ins Groß Schönebeck
Andrea Hons­berg, Eberswalde
Anke Przy­bil­la, Wandlitz
Dr. Dar­ja Bran­den­burg, Ludwigsfelde
Gabriele Jaschke
Lynne Hunger, Potsdam
Dr. Mar­garete Steger
Michael Elte, Oranienburg
[1] Ver­fahren­srichtlin­ie 2013/32/EU, Artikel 19–23, und
Auf­nah­merichtlin­ie 2013/33/EU, Kapi­tel V, Artikel 26, beide
veröf­fentlicht im Amts­blatt der Europäis­chen Union vom 29.06.2013.

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