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Der erfüllte Schwur

Vor 60 Jahren, am 21. April 1945, schlug die Stunde der Frei­heit für noch
verbliebene 110 Häftlinge des KZ-Außen­lagers Schlieben (im heutigen
Elbe-Elster-Kreis). Schlieben war eines von 25 KZ-Neben­lagern in der
Lausitz, denen Häftlinge aus den großen Konzen­tra­tionslagern zugeführt
wur­den und die sich mit einem Sys­tem bar­barisch­er Sklave­nar­beit naht­los in
die Ver­nich­tungs­maschiner­ie der Nazis einfügten. 

Ein­er, den das nicht loslässt, ist der Cot­tbuser Wal­ter Str­nad. Seit 20
Jahren erforscht er mit seinem Zwill­ings­brud­er Ernst die Geschichte der
Nazi-Ver­brechen. So wur­den die bei­den auch auf Schlieben aufmerksam. 

Was trug sich dort im April 1945 zu? Die gängige Bar­barei erfuhr eine
Steigerung, weil die SS und die Naz­ibürokratie berechtigte panis­che Ängste
wegen des zu seinem Ursprung zurück­kehren­den Krieges aus­standen. «Nun
bemüht­en sie sich, so schnell wie möglich sich der lästi­gen Zeu­gen ihrer
Ver­brechen zu entledi­gen» , erk­lärt Str­nad. Und lästige Zeu­gen waren sie
alle­mal, etwa 2600 Gefan­gene, Frauen und Män­ner, aus neun €päis­chen
Län­dern, unter ihnen viele Juden sowie Sin­ti und Roma. Mussten sie doch,
unter Auf­sicht der SS und vom KZ Buchen­wald aus ver­wal­tet, Tod bringende
Sklave­nar­beit ver­richt­en. Tod­brin­gend in mehrfach­er Hin­sicht. Die
Über­leben­srate eines Gefan­genen betrug angesichts von Folter und Hunger nur
wenige Monate. Und tod­brin­gend war, was sie anfer­ti­gen mussten:
Panz­er­fäuste, Granat­en und andere Muni­tion. Dieser Tod dro­hte einem selbst
wegen nicht vorhan­de­nen Arbeitss­chutzes und dro­hte Men­schen der eigenen
Län­der, die Deutsch­land über­fall­en hat­te, und den Ange­höri­gen. Schrecklich
der Gedanke, eine dieser Panz­er­fäuste oder Granat­en kön­nte den eige­nen Sohn
oder Vater zerreißen. 

Ein Ver­brech­er, wer Kriegs­ge­fan­gene und Häftlinge zu solch­er Arbeit zwingt.
Nicht weniger Schuld lud auf sich, wer damit Geschäfte machte: das Leipziger
Rüs­tung­sun­ternehmen Hasag, das in Schlieben mit der SS im Bunde war, und die
SS, die die Todgewei­ht­en «ver­mi­etete» .

Prof­it aus Knochen und Asche 

Wal­ter Str­nad weist eine «Rentabil­itäts­berech­nung» vor, mit der die
SS-Führung Buchen­wald den «Wert» eines Häftlings bemaß. Unterm Strich stehen
dort, neun­monatiges Über­leben zu Grunde gelegt, 1631 RM (Reichs­mark),
«zuzüglich Erlös aus Knochen und Aschen­ver­w­er­tung» . Dieses Geld steck­te die
SS ein. Die Häftlinge wur­den mit den Münzen des Has­s­es, der Bru­tal­ität und
des ekel­haften Zynis­mus ausgezahlt. 

Wenn er an diese Sachen denkt, kommt Wal­ter Str­nad immer ein Schwur in den
Sinn, den er und sein Brud­er vor vie­len Jahren abgelegt hat­ten. Sie hatten
sich fest vorgenom­men, dass sich nicht wieder­holen darf, was ihrem Vater und
anderen Fam­i­lien­ange­höri­gen durch Faschis­ten wider­fahren war. Das hat­te mit
Schlieben nichts zu tun, aber mit der Unmen­schlichkeit und der Gewalt des
NS-Regimes. Die Fam­i­lie lebte in den 30er-Jahren in Böh­men, unweit der
heuti­gen Gren­ze, nahe Varns­dorf. Deutsche in der Tschechis­chen Repub­lik, die
sich dem Anschluss an Hitlerdeutsch­land wider­set­zten. Der Vater, Josef
Str­nad, Sozialdemokrat, später Kom­mu­nist, war Abge­ord­neter und
Stadtschulrat. 

Der Mut des Vaters 

Wenn sich Wal­ter heute an seine Kind­heit erin­nert, kom­men ihm geheimnisvolle
Per­so­n­en ins Gedächt­nis, die zu Hause zu Besuch und doch so gut wie
unsicht­bar, manch­mal nur leise zu hören waren. Die Kinder wur­den von ihnen
offen­sichtlich fer­nge­hal­ten. Später kon­nten sie sich einen Reim darauf
machen. Der Vater half Hit­lergeg­n­ern, die sich den Nazis­cher­gen durch die
Flucht über das Erzge­birge ent­zo­gen hat­ten und auf ihrem Weg durch Europa
Atem schöpfen woll­ten. Später musste sich der Vater selb­st ver­ber­gen. Das
war, als Nach­barn schon in Uni­for­men herum­liefen und Denun­zi­a­tio­nen wie
Unkraut emporschossen. Der Fam­i­lie ließ er auf kon­spir­a­tivem Weg Nachricht
zukom­men. Er hat­te ihr den Weg bere­it­et: Sie sollte aus­ge­flo­gen wer­den. In
Prag stand ein Flugzeug bere­it­et. Doch auch die Gestapo hat­te ihre
Kon­spir­a­tion. Noch vor dem Flug­platz wurde die Fam­i­lie festgesetzt. 

«Mit uns sei ihnen ein guter Fang in das Netz gegan­gen”, sagte ein
Gestapo-Offizier in dem ihnen eige­nen Zynis­mus. “Mögen wir selb­st auch keine
großen Fis­che sein, haben es doch auch kleine Fis­che an sich, zu großen
hinzuschwim­men.» Die Bedro­hung war Ermu­ti­gung. Sie hat­ten den Vater also
nicht. Nach Hause zurück­ge­bracht, musste die Fam­i­lie end­lose Ver­höre über
sich erge­hen lassen. Was sollte das, sie wussten nicht, wo der Vater ist.
Und wenn, das hat­te der für­witzig-tapfere Wal­ter dem Offizier gesagt, würden
sie es doch nicht verraten. 

Wenn er das heute erzählt, greift er an seinen recht­en Unter­arm, als spürte
er immer noch die Wunde, die der Offizier dem Zehn­jähri­gen daraufhin mit
einem spitzen schar­fen Mess­er beige­bracht hatte. 

Aber das ist ihm nicht wichtig. Was bedeutet diese wen­ngle­ich schmerzhafte,
bren­nende Schnit­twunde gegen die Lei­den, die Mil­lio­nen in faschistischen
Konzen­tra­tionslagern durch­ste­hen mussten! Was sich in Schlieben ereignete,
gehörte dazu. Eine der zahlre­ichen von ihm ver­fassten Broschüren schildert
Leben und Leid in Schlieben. Da wird von den unmenschlichen
Arbeits­be­din­gun­gen berichtet. Häftlinge mussten höchst giftige
Sprengstoffmis­chun­gen anrühren — ohne Gas­maske und andere Schutzmittel. 

Ein bere­its in sein­er Jugend begabter pol­nis­ch­er Pianist hat­te von der
schw­eren Muni­tion­sar­beit die Hände voller Schwie­len. Höhep­unkt der
Demü­ti­gung: Mit diesen Hän­den musste er zu Wei­h­nacht­en dem «Lagerver­wal­ter»
Beethovens Mond­schein­sonate vorspielen. 

Aufgenom­men hat Str­nad auch den Lei­dens­bericht ein­er Französin. Sie war mit
ein­er Tschechin, die ihr dabei geholfen hat­te, der Sab­o­tage bezichtigt
wor­den, weil sie, was unter­sagt war, ein durch­nässtes Kleidungsstück
gewech­selt hat­te. Da ist zu lesen: «Die Auf­se­herin begann, uns die Arme
hin­ten festzu­binden und abschließend unsere bei­den Kör­p­er mit dem Rücken
zueinan­der. Mit Fußtrit­ten rollte sie uns über einen Kohlen­haufen. Kurz
danach kamen fünf Offiziere und hießen uns aufzuste­hen, unter ständigen
Stiefel­trit­ten … Eine von den Folterin­nen stürzte sich auf uns:
tre­ff­sichere Schläge, aber auch ganze Bün­del her­aus­ge­zo­gen­er Haare, eine
zer­broch­ene Zahn pro the se … Ohne Zweifel löste die Angst eine
ruhrar­tige Krise aus. Die Nacht war voller Halluzinationen.» 

Neue Würde nach Torturen 

Wenn er so etwas liest und aufar­beit­et, erin­nert er sich an den Vater,
dessen die Naz­ibüt­tel 1938 dann doch hab­haft gewor­den waren. Die Mutter
durfte ihn im Dres­d­ner Gestapo-Knast «Mathilde» von weit­em am Fen­ster sehen.
Sie hat ihn fast nicht wieder­erkan­nt. Er war dann nach Dachau gekom­men, von
wo er eine Postkarte mit befohlen­em Text an die Fam­i­lie richt­en kon­nte: «Ich
bin Häftling in Dachau. Da ich eine Straftat began­gen habe, darf ich nur
alle halbe Jahre schreiben.» Später kam er nach Buchen­wald. Er überlebte
alle Tor­turen. 1945 zurück­kehrend, war er nur noch ein Schat­ten seiner
selb­st. Das bewirk­te den Schwur sein­er Kinder, der vieles enthielt. Sie
mussten dem Vater und allen anderen Opfern die Würde wiedergeben, indem sie
alles Men­sche­nun­würdi­ge anprangerten. Die Welt musste wis­sen, was geschehen
war und was sich nicht wieder­holen darf. Und sie mussten die Gewissheit
weck­en, dass der Men­sch nicht wehr­los ist. Damit erfüll­ten sie auch das
Ver­mächt­nis ihre Brud­ers Josef, der, zur Wehrma­cht rekru­tiert, über­lief und
in Jugoslaw­ien bei den Par­ti­sa­nen kämpfte und fiel. 

Himm­lers Todesbefehl 

Als der sechzehnj&a
uml;hrige Wal­ter Str­nad, zum Reich­sar­beits­di­enst eingezogen,
floh und durch das Land irrte, beina­he den Bluthun­den der Feldgendarmerie
als Fraß diente, begab sich in Schlieben dies: Reichs­führer SS Heinrich
Himm­ler hat­te ver­fügt, dass den her­an­rück­enden Anti-Hitler-Trup­pen keine
Lager übergeben wer­den dür­fen, son­dern alle evakuiert wer­den müssen.
Wörtlich wies der Reichs­führer SS an: «Kein Häftling darf lebendig in die
Hände des Fein­des fall­en.» Das hat­ten die Nazis auch in Schlieben genau gele
sen und befol­gten es buchstabengetreu. 

Ange­hörige der SS-Mannschaft ver­lu­den eiligst Tre­sore auf Lastwagen,
pfer­cht­en hun­derte von Häftlin­gen in Güterzüge, ver­riegel­ten und
ver­siegel­ten diese und trans­portierten die Frauen und Män­ner ab, nach
There­sien­stadt und in andere Lager. Manche Züge fan­den kein Ziel. Andere
Häftlinge schick­ten sie auf den Todes­marsch. Eine Rei­he weib­lich­er Häftlinge
beauf­tragten sie, zurück­ge­bliebene SS-Leute vor der her­an­rück­enden Roten
Armee zu schützen. Sie soll­ten sich mit Panz­er­fäusten vor die Nazis gegen
die Russen stellen. Beherztes Ein­treten einiger Häftlinge ver­hütete diesen
Wahnsinn. Denun­zi­a­tio­nen und Grausamkeit­en hat­ten Sol­i­dar­ität und
Kam­er­ad­schaft schw­er gemacht, ver­nicht­en kon­nten sie sie nicht. 

Am 21. April erre­icht­en sow­jetis­che Sol­dat­en das Schlieben­er Lager, in dem
sich 110 Häftlinge der Größe der Stunde nur zögernd bewusst wer­den konnten.
Zu sehr hat­te das Grauen ihr Denken zugedeckt. Dann wussten sie: Das Leben
hat­te wieder begonnen. 

Nach ein­wöchigem Aufen­thalt im Lager, ist dem Bericht eines ehemaligen
Häftlings zu ent­nehmen, erteil­ten die Russen den Insassen die Weisung, sich
den Amerikan­ern anzuschließen. 

Wal­ter Str­nad wurde nach dem Krieg Elek­trik­er, studierte Sozi­olo­gie, wurde
Hochschul­dozent. Zusam­men mit seinem Brud­er erfüllt er auch weit­er­hin den
Schwur alles zu tun, dass sich Faschis­mus niemals wieder­hole. Jede Stunde
vor ein­er Schulk­lasse, jed­er Auf­trag für eine Ausstel­lung sind ihnen
Herzenssachen.

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