Als der Name Rita fällt, schließt die Frau lieber die Tür. Sie will keinen Ärger. Deshalb soll sie hier auch nicht näher beschrieben werden, nur so viel: Sie lebt im selben Heim, in dem auch Rita lebte; ein paar Zimmer weiter. Sie war eine ihrer Freundinnen. Rita, sagt die Frau, war ein guter Mensch. Eine fürsorgliche Mutter, verantwortungsbewusst, nur manchmal etwas distanziert. Aber definitiv niemand, der einfach so verschwindet.
Rita Awour Ojungé kam 2012 aus Kenia nach Deutschland. Eine Zeit lang arbeitet sie als Au-pair. Mit einem Kameruner bekommt sie zwei Söhne, heute zwei und vier Jahre alt. Dann wird ihr Asylantrag abgelehnt, man verlegt sie in ein Heim in der tiefsten Brandenburgischen Provinz.
Am 7. April 2019, einem Sonntag, verschwindet Ojungé aus dem Heim. Sie ist 32 Jahre alt.
Mehr als zwei Monate später findet man ihre Leiche, zerstückelt und von Brandspuren gezeichnet, 300 Meter von dem Heim entfernt im Wald.
Zur breiten Öffentlichkeit dringt der Fall zunächst kaum durch. Dass er es überhaupt in überregionale Medien schafft, ist dem Appell verschiedener Migrantenorganisationen zu verdanken. Es steht ein Verdacht im Raum: Wurde nicht richtig ermittelt, weil Rita “nur” eine Geflüchtete war?
Über zwei Wochen vergehen, bis die Polizei eine Suchmeldung herausgibt. Weitere zwei Wochen, bis die Beamten nicht von einem Vermisstenfall, sondern von einer Straftat ausgehen – und das auch erst, nachdem sich der Vater von Ojungés Kindern an einen Hilfsverein wendet, der die Staatsanwaltschaft einschaltet.
Am 12. Juni, mehr als zwei Monate nach Ojungés Verschwinden, startet die Polizei schließlich eine große Suchaktion in den umliegenden Wäldern. Sie findet die Leiche einer Frau. Am 25. Juni wird diese offiziell als Ojungés Überreste identifiziert. Der Tagesspiegel berichtet über den Fall, die taz auch.
Bis heute, acht Monate nach Ritas Verschwinden, ist niemand verhaftet worden. Viele Fragen bleiben offen.
Angehörige, Migrantenorganisationen und Menschen, die in den Fall involviert sind, kritisieren die lange Verfahrensdauer, mangelnde Transparenz, vor allem aber die nur langsam voranschreitenden Ermittlungen. Polizei und Staatsanwaltschaft hingegen weisen die Vorwürfe, nicht richtig zu ermitteln, weit von sich.
Doch die Geschichte der Rita Ojungé wirft nicht nur die Frage auf, ob die Behörden mit zweierlei Maß messen. Sondern auch, ob es überhaupt so weit hätte kommen müssen. Ob Heimleitung und der zuständige Landkreis die Warnungen der Bewohner ernst genug genommen haben.
Ein heißer Septembertag. Das Asylbewerberheim Hohenleipisch ist auf einem ehemaligen Kasernengelände untergebracht, gut zwei Kilometer vom Zentrum der 2.000-Einwohnergemeinde entfernt. Es gibt einen Bus, der bis vor kurzem nur montags bis freitags alle zwei Stunden und am Wochenende gar nicht fuhr. Inzwischen fährt er zumindest die ganze Woche durch.
Wer die Eingangspforte passiert, gelangt auf ein weitläufiges Areal, läuft über Gras und aufgeplatzte Betonplatten. “Dschungel” nennen die Bewohner diesen Ort, oder “Busch”, viele auch ein “offenes Gefängnis”. Weil sie sich beim Betreten ein- und abmelden müssen, Besucher ihren Ausweis vorzeigen und das Gelände gegen 22 Uhr verlassen müssen.
Offiziell leben 97 Menschen hier, fast alle ohne Bleibeperspektive. Afghanen sind dabei, Inder, Menschen aus Ghana und der Elfenbeinküste. Sie dürfen weder arbeiten noch einen Sprachkurs absolvieren. Einige nicht einmal den Landkreis verlassen. Es gibt Menschen, die leben seit über zehn Jahren hier.
In einer der beigen Barracken sitzt die Frau, die sagt, sie sei Ojungés Freundin gewesen, auf ihrem Bett; ihr Name soll in dieser Geschichte Lydia Dimka sein. In einem Regal stehen eine Pfanne mit Nudelresten, daneben Salz, Olivenöl. Es gibt nur eine Gemeinschaftsküche im Trakt, sie muss die Dinge in ihrem Zimmer lagern. Es riecht abgestanden, modrig.
Am Samstag, den 6. April, erzählt Dimka, habe sie sich eine Bürste von Ojungé geborgt.
Am Sonntag habe sie Ojungé nicht gesehen.
Am Montag wollte sie die Bürste zurückgeben, traf aber nur Ojungés Nachbarn an. Er spielt eine bedeutende Rolle in der Geschichte. Ojungé sei nicht da, habe er ihr erzählt. Sie sei kurz einkaufen.
Dem Vater der zwei Kinder, dem Kameruner, er lebt in Berlin, erzählt derselbe Nachbar später, Ojungé sei an jenem Sonntag nach Berlin gefahren. Und habe ihm aufgetragen, auf die Kinder aufzupassen. Was ungewöhnlich ist: Zu dieser Zeit fuhr doch sonntags noch kein Bus. Und Ojungé sei, so berichtet es Dimka, die Strecke bis zum nächsten Bahnhof eigentlich nie zu Fuß gelaufen.
Als Dimka von den unterschiedlichen Geschichten erfährt, wird sie skeptisch. Ojungé hatte nicht nur – was ungewöhnlich für sie war – ihre Kinder zurückgelassen. Sie hatte auch weder Bankkarte noch eine Tasche mitgenommen.
Es musste etwas passiert sein.
“Die Polizei hat den Fall viel zu lange als Vermisstenfall behandelt”
Am Dienstag kommt der Vater von Ojungés Kindern laut Presseberichten nach Hohenleipisch, um bei den Jungen zu sein. Er bezieht ein Zimmer im Heim, gibt eine Vermisstenmeldung bei der Polizei auf. Und gibt dabei an, er glaube, der Nachbar habe etwas mit Ojungés Verschwinden zu tun.
Am 16. April durchsuchen Polizisten mit Spürhunden erstmals die Zimmer des Heims, ergebnislos. Sie hätten sich dabei auf das Gelände beschränkt, berichten Anwohner, den angrenzenden Wald hätten sie nicht durchsucht. Der ermittelnde Oberstaatsanwalt Gernot Bantleon widerspricht dem später.
Fakt ist: Der abgesuchte Radius ist zu eng gesteckt, Ojungé bleibt verschwunden.
Als es Ende April immer noch keine Spur von ihr gibt, wendet sich der Vater von Ojungés Kindern an den Verein Opferperspektive, eine Initiative, die sich um Opfer rechter Gewalt in Brandenburg kümmert. Der Verein appelliert an die Polizei, die Ermittlungen zu intensivieren. Dabei erfahren die Mitarbeiter, dass die Polizei den Fall als Vermisstenfall führt, nicht als mögliche Straftat. Die Initiative stellt daraufhin Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Cottbus.
Der Oberstaatsanwalt weist die Behauptung von sich
Martin Vesely arbeitet für die Opferperspektive, er hat den Vater von Ojungés Söhnen betreut. “Die Polizei hat den Fall viel zu lange als Vermisstenfall behandelt”, sagt er. “Die Beamten hatten augenscheinlich kein Interesse daran, den Dingen wirklich auf den Grund zu gehen.”
Die Initiative schaltet eine Anwältin ein, Christina Clemm. Sie habe Polizei und Staatsanwaltschaft mehrfach kontaktiert, sagt Clemm. Dabei hätten ihr die Beamten gesagt, dass man gerade in einem Fall organisierter Kriminalität ermittle. Und keine freien Kapazitäten mehr habe. “Man kann sich gut ausmalen, welche Maßnahmen ergriffen worden wären”, sagt Clemm, “wenn die Frau eine weiße Deutsche gewesen wäre, die ihre Kinder zurückgelassen hat – und keine geflüchtete Frau aus Afrika.”
Es ist die Frage, die über allem schwebt: Handelten die Behörden etwa aus rassistischen Motiven nachlässig?
Oberstaatsanwalt Bantleon weist die Behauptung von sich; spricht von einem “ganz normalen Prozedere”, das bei Afrikanern genauso gelte wie bei Deutschen.
Bleibt die Frage, warum die Beamten an jenem 16. April nur das umliegende Areal durchsuchten – nicht aber den Bereich weiter außen, jenen Teil, in dem man später Teile von Ojungés Überresten fand. Immerhin liegt der nur 300 Meter vom Heim entfernt.
“Eine aufwendige Suche muss organisiert und geplant werden”, sagt Bantleon. Dazu brauche es mehr Polizisten und Hunde, als auf Anhieb zur Verfügung stünden. Er nennt es eine Frage der Personalpolitik. “Wir sprechen hier vom südlichen Brandenburg, einem dünn besiedelten Gebiet. Da kann nicht jeder Polizeiposten mit 100 Mann besetzt sein.”
Ein neuer Zeuge rückt in den Fokus: Ojungés vierjähriger Sohn
Doch schon kurz nach der ersten Suchaktion mehren sich die Anhaltspunkte, dass es sich um mehr als einen Vermisstenfall handelt. Denn durch Intervention der Opferperspektive rückt ein neuer Zeuge in den Fokus: Ojungés vierjähriger Sohn. Er sagt aus, er habe gesehen, wie der Nachbar seine Mutter an jenem 7. April geschlagen und verschleppt habe. Ein Beamter befragt den Jungen dazu. Allerdings keiner, der in der Befragung von Kindern geschult ist. Was erneut zu Verwerfungen führt.
Der Junge sei nicht fachgerecht verhört worden, heißt es später seitens der Opferperspektive.
Die Aussagen des Jungen seien nicht eindeutig gewesen, seitens der Polizei. Man habe beispielsweise keine Blutspuren im Zimmer gefunden. Ein Haftbefehl wird nicht erlassen.
Spricht man mit Heimbewohnern und Menschen aus Ojungés Umfeld, teilen viele den Eindruck des Jungen: Der Nachbar habe etwas mit der Tat zu tun. Ein Mann Anfang 30, der liebevoll zu Kindern war und im nächsten Moment aufbrausend werden konnte.
Der Mann bleibt ein Mysterium. Mit seiner Herkunft geht es los: Die Polizei spricht zunächst von einem Nigerianer; der Landkreis sagt, der Mann komme aus dem Tschad; Oberstaatsanwalt Bantleon sagt, es handle sich um einen Kenianer.
Plötzlich gibt es einen Anfangsverdacht
Ein Bewohner des Heims in Hohenleipisch – auch er möchte unerkannt bleiben – beschreibt den Nachbarn als abweisend. Als jemanden, der einem nicht in die Augen sah, der meist in seinem Zimmer blieb. Und unter Leuten oft in Schlägereien geriet. Er zeigt ein Foto des Nachbarn: weißes Unterhemd, die Haare an den Seiten kurz, die Dreads zum Zopf gebunden; er wirkt in sich gekehrt.
Der Nachbar sei unberechenbar gewesen, sagt auch Lydia Dimka, Rita Ojungés Freundin. Man wusste nie, woran man bei ihm war. In der Zeit nach dem Fund der Leiche habe er viel getrunken und manchmal, nachts, laut geschrien und geweint. Mitunter habe er Ojungé dann um Vergebung gebeten. Auch sie habe bei der polizeilichen Vernehmung gesagt, sie glaube, dass er der Täter sei.
Der zuständige Oberstaatsanwalt Gernot Bantleon sagt im September, der Mann sei vernommen worden und bestreite die Tat. “Aus der Vernehmung haben wir keine Erkenntnisse gewinnen können.” Es gebe mehrere Personen, die die Möglichkeit hatten, die Frau zu töten. Weiter wolle er sich nicht äußern.
Im Dezember klingt das schon etwas anders. Bantleon spricht nun von einem Anfangsverdacht gegen den Mann. Welche neuen Erkenntnisse dazu führten, wolle er nicht sagen. Die Anhaltspunkte wären jedoch immer noch nicht ausreichend für einen hinreichenden oder gar dringenden Tatverdacht – und damit auch nicht stark genug, um Haftbefehl zu erlassen.
Ojungé hatte sich bereits über den Nachbarn beschwert
Ojungé und der Nachbar hatten eine Vorgeschichte. Ojungé habe sich, so berichten es Heimbewohner und Martin Vesely von der Opferperspektive, mindestens zwei Mal über den Nachbarn bei der Heimleitung beschwert. Lydia Dimka sagt, Ojungé habe dabei explizit die Verlegung des Mannes gefordert, habe gesagt, sie fühle sich von ihm bedroht. Der Landkreis Elbe-Elster, für die Unterbringung der Asylbewerber zuständig, bestreitet das und beruft sich dabei auf die Heimleitung.
Dabei ist unklar, ob der Nachbar überhaupt im Zimmer neben ihr hätte leben dürfen. Das Schutzkonzept des Heimes sieht eigentlich die getrennte Unterbringung von Familien und alleinreisenden Männern vor. Roland Neumann, zuständiger Dezernent des Elbe-Elster-Kreises, sagt dazu, der Nachbar sei Ojungés Lebensgefährte gewesen, die Rede ist von einer “eheähnlichen Gemeinschaft”, er sei im Einverständnis beider, also auch Ojungés, umgezogen.
Es gibt Menschen, die sagen, Ojungé und der Nachbar hätten eine Beziehung geführt. Sie habe das Verhältnis beenden wollen, er aber habe sich geweigert. Von Eifersucht ist die Rede.
Fakt ist: Es kommt monatelang zu keiner Verlegung. Der Nachbar lebt nach Ojungés Verschwinden weiterhin im Heim. Der Vater von Ojungés Kindern, der ihn für den Täter hält, muss neben ihm leben. Ebenso die zwei Kinder, wovon eines ausgesagt hat, es habe gesehen, wie der Mann seine Mutter geschlagen und weggezerrt hat. Im Mai wird der Nachbar zwar in einen anderen Trakt, den für alleinreisende Männer, verlegt, auf Wunsch des Vaters von Ojungés Kindern und um “Konfliktsituationen zwischen den Männern zu vermeiden”, wie es beim Landkreis heißt. Er bleibt aber auf dem Gelände, wird nicht in ein anderes Heim verlegt. Weder die Polizei noch das eingeschaltete Jugendamt haben Bedenken.
Erst als Ojungés Leiche identifiziert ist, am 25. Juni, kommt die Polizei vorgefahren. Zehn Minuten geben sie dem Nachbarn, um seine Sachen zu packen, so berichtet es Lydia Dimka. Dann bringen sie ihn in ein anderes Heim. Die Verlegung sei in “Abstimmung mit Polizei, Ausländerbehörde und dem Stab Asyl” erfolgt, heißt es seitens des Landkreises, um “aufkommenden Spannungen und Vermutungen zu begegnen”. Nur hatte es die nach Aussagen der Bewohner da schon längst gegeben.
Das verdeutlicht auch ein anderer Umstand: Noch vor der Verlegung des Nachbarn, so berichtet es Martin Vesely von der Opferperspektive, wurde der Vater von Ojungés Kindern von der Polizei kontaktiert. Ihm wurde ein Dokument vorgelegt, das ihn warnte, gegen den Nachbarn vorzugehen. Eine Gefährderansprache. Bei der Polizei war man sich der Spannungen also durchaus bewusst.
Unter Umständen wäre es auch möglich gewesen, einige der Bewohner zu verlegen. Etwa Familien mit Kindern.
Das Landesaufnahmegesetz sieht grundsätzlich vor, dass Menschen, die besonders schutzbedürftig sind, in Ausnahmefällen aus Gemeinschaftsunterkünften verlegt und auch in Wohnungen untergebracht werden können. Das Heim in Hohenleipisch aber entspreche allen Anforderungen, heißt beim Landkreis, auch denen besonders schutzbedürftiger Menschen.
Bei der Betreiberfirma des Heims, der Human-Care GmbH, klingt das ähnlich. Der Tagesspiegel zitiert die Geschäftsführerin mit den Worten, die Unterkunft liege zwar im Wald, aber das sei ja nicht schlimm; viele Menschen würden schließlich gern in den Wald ziehen. Eine Interviewanfrage von ZEIT ONLINE wird abgelehnt mit der Begründung, der Reporter habe sich “unbefugt und verdeckt” auf dem Gelände aufgehalten. (Was nicht stimmt, die Personaldaten wurden am Eingang aufgenommen, als der Reporter bei einer Bewohnerin zu Gast war.)
Die Ermittlungen würden noch Zeit in Anspruch nehmen. “Viel Zeit.”
Wenn Lydia Dimka, Rita Ojungés Freundin, ihr Leben in dem Heim beschreiben soll, spricht sie vor allem von Angst. Angst, ihre Kinder draußen spielen zu lassen, beginnt doch direkt vor der Pforte der Wald. Angst vor rassistischen Übergriffen; erst im Mai hatte ein Unbekannter Überreste eines Schweins vor das Heim gelegt.
Angst aber auch, nachts im Heim zur Toilette zu gehen, einem Raum, der sich nur ein paar Türen weiter, am Ende des Ganges, befindet. Viele Frauen würden lieber einen Eimer benutzen, sagt Dimka. Andere würden Nachbarn bitten, aufzupassen, wenn sie gehen. Die Angst sei schon immer da gewesen. Das Verschwinden von Rita Ojungé aber habe sie noch verstärkt.
Mitte Juli veröffentlichten die Bewohner einen offenen Brief. Sie sprachen von Isolation, von fehlenden Freizeitmöglichkeiten, von dreckigen Gebäuden und Kakerlaken. Und forderten, unterstützt vom Flüchtlingsrat Brandenburg, ihre Verlegung. Vergebens. 2011 hatte es schon einmal Demonstrationen zur Schließung des Heimes gegeben. Auch damals erfolglos.
Eine Schließung ist nicht in Sicht
Der Vertrag für das Heim läuft zum Ende des Jahres aus, Human-Care hat sich erneut beworben; der Landkreis hat sich aber für einen anderen Betreiber, die Internationaler Bund Berlin-Brandenburg gGmbH, entschieden. Eine Schließung ist vorerst nicht in Sicht.
Eine Bewohnerin sagt: “Für den Landkreis ist das Heim ideal, man kann die Menschen hier so lange zermürben, bis sie von sich aus aufgeben. Und vielleicht zurück in ihre Heimat gehen.”
Ob es aber einen Zusammenhang gibt zwischen den Zuständen im Heim, den fehlenden Perspektiven der Bewohner und dem Mord an Rita Ojungé, ist schwer zu sagen. Martin Vesely von der Opferperspektive sagt: “Es gibt keine zwingende lineare Abfolge von den Zuständen im Heim zum Mord. Und doch spielt die Unterbringung traumatisierter Menschen auf diese Art natürlich mit hinein.”
Am 14. Dezember, einem verregneten Samstag, wird Rita Ojungé schließlich in Berlin beerdigt. Etwa 60 Menschen kommen in der kleinen Kapelle der St. Hedwigs-Gemeinde zusammen, die meisten aus der kenianischen Exil-Community. “Wir wissen bis heute nicht, was mit Rita passiert ist”, sagt Ojungés Cousine, die die Trauerfeier organisiert hat, am Ende ihrer Ansprache. “Das macht es so schwer, Abschied von ihr zu nehmen.” Ojungés Mutter, sie lebt in Kenia, ist nicht erschienen. Es ist zu viel für sie.
Ein neues Gerücht
Denn auch der Beerdigung gehen Ungereimtheiten voraus: Die Staatsanwaltschaft sagte noch im Sommer, sie gebe den Körper frei. Verschiedene Hilfsorganisationen und Verwandte Ojungés sammeln daraufhin Geld, um die Mutter aus Kenia zur Beerdigung einzufliegen. Sie landete Ende August. Doch dann erklärte die Staatsanwaltschaft, die Untersuchung würde sich länger ziehen als gedacht, der Körper könne doch nicht freigegeben werden. Das Visum der Mutter lief aus, sie musste wieder in die Heimat zurück. Erst im November gibt die Staatsanwaltschaft die Leiche frei; nach fünf Monaten in der Gerichtsmedizin. Eine lange Zeit.
Unter den Bewohnern in Hohenleipisch kursiert derweil das Gerücht, Ojungés ehemaliger Nachbar, der Mann gegen den nun ein Anfangsverdacht besteht, sei inzwischen untergetaucht. Beim zuständigen Landkreis heißt es dazu nur, man habe ihn der anderen Unterkunft zugewiesen. “Eine tägliche Aufenthaltspflicht ist damit nicht verbunden.”
Der ermittelnde Oberstaatsanwalt Gernot Bantleon sagt, er könne den Mann derzeit nicht festnehmen, dazu fehlten Anhaltspunkte. Und dass die Ermittlungen noch Zeit in Anspruch nehmen würden. “Viel Zeit.”