Beziehung zwischen Oranienburg und KZ Sachsenhausen ist wissenschaftlich
aufgearbeitet
(BM, 1.11.) Oranienburg — Ende der dreißiger, Anfang der vierziger Jahre hatten sich die
beiden Standesbeamten im Rathaus der Stadt Oranienburg die Arbeit geteilt.
Einer war für Eheschließungen, Scheidungen und Geburten zuständig. Sein
Kollege K. bearbeitete die Todesfälle. Davon gab es reichlich, denn zum
Standesamtsbezirk gehörte auch das KZ Sachsenhausen.
Gesagt hat die Amtsperson K. nichts. Denn formal war alles in Ordnung. Die
Totenscheine, vom SS-Lagerarzt ausgestellt, enthielten die erforderlichen
Angaben über Todeszeitpunkt und ‑ursache. Die Zahl der Fälle allerdings war
für die Kleinstadt enorm. Allein im Januar 1940 wurden 930 Tote beurkundet,
viele davon Erschossene — “auf Befehl des Führers”, “auf Befehl des
Reichsführers” (Himmler), “auf der Flucht”, oder einfach “erschossen”.
Gewundert hat sich der Privatmann K. schon. Denn immer waren die gleichen
Todesursachen aufgeführt. Herzversagen, Lungenentzündung — das waren zwei
der zwölf Todesursachen, die die SS für Sterbeurkunden von KZ-Häftlingen
vorgeschrieben hatte. Erst viel später, nach dem Krieg, sagte der Beamte,
ihm sei klar gewesen, daß es sich um fingierte Todesursachen handelte. Für
Historikerin Andrea Riedle, die das Verhältnis zwischen Kommune und KZ
erforscht, ist klar: “Mitarbeiter der Stadtverwaltung waren in die
Verbrechen involviert.”
“Das Beispiel zeigt, daß Oranienburg und Sachsenhausen keine hermetisch
voneinander getrennten Bereiche waren”, sagt Forscherin Riedle. Ganz im
Gegenteil, Stadt und Lager waren auf vielfältige Weise miteinander verwoben.
“Die Einwohner konnten die Elendszüge der Häftlinge täglich sehen, etwa wenn
Transporte am Bahnhof ankamen und die Kolonnen über offene Straßen zum Lager
marschierten”, sagt die Historikerin. Das sogenannte Klinkerwerk, eine
mitten in der Stadt gelegene Außenstelle des KZ, war der schrecklichste Ort
von Oranienburg. Hier gab es täglich Tote, die die Gefangenen abends auf
Rollwagen hinter sich herzogen.
Immer wieder gab es Menschen, die den Häftlingen heimlich Essen zusteckten,
Brot zuwarfen oder es am Straßenrand deponierten. Die Gefangenen
revanchierten sich so gut sie konnten. Zeugnis davon ist die sogenannte
Troika, ein Holzspielzeug, das eine Oranienburgerin für ihren elfjährigen
Sohn geschenkt bekam.
Dutzende von Häftlingskommandos arbeiteten in der Stadt, die Gefangenen
waren aber auch zur Zwangsarbeit in den Heinkel-Flugzeugwerken und in den
Auer-Werken eingesetzt, wo sie unter anderem Gasmasken für die Wehrmacht
herstellen mußten. Dabei kam es immer wieder zu Kontakten zwischen
Häftlingen und Arbeitern — obwohl das streng verboten war.
Und Oranienburger hatten immer mal im Lager zu tun, als Handwerker etwa oder
Bauarbeiter. Die örtliche Bäckerei und die Druckerei arbeiten für das Lager.
Bis zu vier Besuchergruppen pro Wochen wurden hindurch geführt, die
Finanzakademie Berlin-Tegel unternahm gar regelmäßig ihren Betriebsausflug
dorthin. “Jeder Oranienburger wußte, daß es ein KZ gab und daß es den
Häftlingen dort nicht gut ging”, sagt Günter Morsch, Leiter der Gedenkstätte
Sachsenhausen. Die Stadt wußte Bescheid, spätestens, seit durch die
Verbrennung der Leichen 12 000 sowjetischer Kriegsgefangener im Herbst 1941
wochenlang beißender Qualm in der Luft hing. Zwei Fälle sind dokumentiert,
wo SS-Leute Gefangene in aller Öffentlichkeit erschossen.
Doch die meisten Oranienburger hörten, sahen, rochen und fühlten lieber
nichts. “Der SS ist es gelungen, sich hinter einem schönen Propagandabild zu
verstecken”, sagt Morsch. Sie sammelte fürs Winterhilfswerk, ihr Musikkorps
gab regelmäßig Konzerte in der Stadt, die SS-Fußballmannschaft trat gegen
örtliche Vereine an, es gab eine Fülle von Anweisungen, wie ein SS-Mann
außerhalb des Lagers aufzutreten hatte.
Ansonsten grenzte sich das Lager ab. Es gab Verbote für Passanten, an
Lagerzaun oder ‑mauer stehen zu bleiben, auch der Blick hinein, von
bestimmten Häusern aus möglich, war untersagt. “Dies und die gelungene PR,
die suggerierte, die SS sei gut, und im KZ säßen ohnehin nur die Verbrecher,
bot allen potentiellen Wegguckern die Chance, dies auch zu tun”, urteilt
Morsch. Auch in der Diktatur könne jeder Mensch entscheiden, ob er hinguckt
oder wegsieht.
In der Gedenkstätte Sachsenhausen ist zu dem Thema die neue Dauerausstellung
“Die Stadt und das Lager” eröffnet worden (dienstags bis sonntags, 8.30 bis
16.30 Uhr).