Menschenverachtung als Mordmotiv
Die Zahl der Todesopfer rechter Gewalt, die seit der deutschen Vereinigung zu beklagen sind, steigt weiter. Mindestens 99 Menschen kamen ums Leben, weil ihnen rechtsextreme Schläger das Existenzrecht absprachen. Zum
dritten Mal legt die Frankfurter Rundschau mit dem Tagesspiegel das Ergebnis ihrer Recherchen vor.
Im September 2000 wurden 93 Migranten und Deutsche genannt, die seit 1990 getötet wurden. Bis zum Oktober 2001 stieg die Zahl der sicheren Fälle auf 97. Jetzt besteht Gewissheit in zwei weiteren Todesfällen. Die reale Zahl
der Opfer rechtsextremer Gewalt ist wahrscheinlich deutlich höher.
Tagesspiegel und FR führen aber nur Tötungsverbrechen als eindeutig rechte Fälle auf, in denen kein Zweifel am Hintergrund besteht.
Weitere Gewalttaten, bei denen es deutliche Indizien dafür gibt, werden im unten stehenden Artikel als
“Verdachtsfälle” beschrieben. Eine der beiden rechtsextremen Bluttaten, die im Folgenden skizziert werden, der Mord an Willi Worg, ist in unserer Recherche vom Oktober 2001 als “Verdachtsfall” aufgeführt worden. Aus dem Verdacht ist Gewissheit geworden.
Der 17 Jahre alte Marinus Schöberl wird am 12. Juli 2002 im
brandenburgischen Dorf Potzlow von drei jungen Rechtsextremisten zu Tode gequält. Zunächst schlagen die Täter, zwei Brüder im Alter von 17 und 23 Jahren sowie ein weiterer 17-Jähriger, bei einem Besäufnis in der
Wohnung eines alkoholkranken Mannes auf Schöberl ein. Die Rechtsextremisten halten das Opfer für “minderwertig” und pöbeln ihn an: “Sag, dass du ein Jude bist.” Schöberl leidet an Sprachstörungen, außerdem entsprechen seine
Hip-HopperHosen und seine blondierten Haare nicht dem Geschmack der Täter.
Die Rechtsextremisten flößen Schöberl Bier und Schnaps ein und urinieren auf seinen Kopf und Körper. Mindestens zwei erwachsene Augenzeugen beobachten die Misshandlung, helfen dem Opfer aber nicht.
Schließlich bringen die Schläger Marinus Schöberl in einen
stillgelegten Schweinestall. Schöberl wird weiter geprügelt und gezwungen, in den Rand eines Schweinetrogs zu beißen. Als Schöberl auf dem Boden liegt, versetzt ihm einer der Täter gezielte Tritte an den Kopf. Nach mehr als vier
Stunden Folter ist Schöberl tot. Die Täter versenken den Jugendlichen in einer Jauchegrube. Erst im November 2002 wird die Leiche entdeckt.
Die Staatsanwaltschaft Neuruppin hat die Täter wegen Mordes angeklagt. “Das war eindeutig eine rechte Tat”, heißt es in der Behörde. Einer der Täter hat einige Wochen nach dem Mord einen Asylbewerber in Prenzlau zusammengeschlagen.
In der Nacht vom zum 25. März 2001 wird der 38-jährige Willi Worg in Milzau (Sachsen-Anhalt) von fünf jungen Männern zwischen 15 und 24 Jahren vor einer Disco zusammengeschlagen und getreten. Drei Tage später stirbt er an seinen schweren Verletzungen. Fast alle inneren Organe im Oberbauchbereich sind gerissen. Die Ermittlungsbehörden rechnen drei der Angreifer zur rechtsextremen Szene, in der man laut Urteil “rechtsradikale Musik hört und gegen Ausländer und Juden” sei. Zwei von ihnen sind wegen
Propagandadelikten vorbestraft oder nach dem Jugendstrafrecht ermahnt worden.
Die Staatsanwaltschaft Halle spricht von einer
“unglaublichen Brutalität”, mit der die Gruppe agierte. Die Ankläger schlossen einen rechtsextremen Hintergrund zunächst aus. Die Anklage lautete auf versuchten Raub und
Körperverletzung mit Todesfolge. Die Jugendkammer des Landgerichts Halle beurteilte die Motivation der Täter jedoch anders.
Am 13. November 2001 wurden alle fünf Tatbeteiligten wegen Mordes und Beihilfe zu Mord zu Haft- und Jugendstrafen zwischen acht und vier Jahren verurteilt. Die Verteidigung hat Revision eingelegt. Die Vorsitzende Richterin sagte:
“Erst in der Gruppe, die Gewalt und die Morde der
Altvorderen verherrlicht, bekamen sie die Einstellung, eine solche furchtbare Sache zu machen.” Geltungsbedürfnis und falsch verstandene Kameradschaft, gepaart mit Menschenverachtung und Gleichgültigkeit hätten zu
der Tat geführt. Der 19-jährige Haupttäter ließ sich in der
Untersuchungshaft ein Hakenkreuz auf den Bauch tätowieren.
Die Autoren danken den Angehörigen der Opfer, dem Antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrum e.V. in Berlin, den Pressesprechern von Landgerichten und Staatsanwaltschaften sowie den Archiven von FR und
Tagesspiegel für vielfältige Unterstützung.
Rechte Gewalttäter töteten 99 Menschen
In Deutschland sind seit der Wiedervereinigung mindestens 99 Menschen durch die menschenverachtende Gewalt von Rechtsextremisten ums Leben gekommen, wahrscheinlich sogar noch mehr. Das haben gemeinsame Recherchen der
Frankfurter Rundschau und des Berliner Tagesspiegel ergeben.
BERLIN, 5. März. Seit 1990 sind deutlich mehr Menschen aus
rechtsextremistischen Motiven getötet worden, als es die offiziellen
Statistiken erkennen lassen. Während FR und Tagesspiegel 99 Fälle
aufzeigen,
geht die Bundesregierung von 39 Todesopfern aus. “Im Jahr 2002 wurde
kein
vollendetes Tötungsdelikt infolge einer extremistischen Straftat
gemeldet”,
teilt das Bundesinnenministerium mit.
Die beiden Zeitungen hatten erstmals 2000 ihre Recherchen unter dem
Titel
“Den Opfern einen Namen geben” vorgelegt. Damals hatten sie 93
Todesopfer
ermittelt. Ein Jahr später waren vier Fälle hinzugekommen. Nun muss die
Liste erneut um zwei Namen verlängert werden.
Marinus Schöberl wurde im Sommer 2002 im brandenburgischen Potzlow von
drei
Rechtsextremisten als “Jude” beschimpft und getötet, weil er sich die
Haare
blond gefärbt hatte und weite Hosen trug. Der Fall wird amtlich nicht
als
rechtsextrem motiviertes Delikt gewertet.
Der Rentner Willi Worg wurde im Jahr 2001 in Sachsen-Anhalt ermordet.
Die
Tat galt zunächst als Raubmord. Ein Gericht stellte dann aber die
rechtsextreme Motivation der Täter fest.
Diesmal berichten FR und Tagesspiegel über sieben neue Verdachtsfälle,
in
denen das rechtsextreme Tatmotiv wahrscheinlich, aber nicht mit letzter
Sicherheit zu ermitteln war. Die Zahl der Opfer könnte deswegen noch
über 99
hinausgehen.
Seit der ersten Veröffentlichung der Recherchen haben die Innenminister
die
Zählweise geändert. Vorher wurden nur Taten als rechtsextremistisch
verbucht, mit denen der Angreifer das politische System der
Bundesrepublik
umstürzen wollte. Inzwischen sollen auch Attacken angetrunkener
Skinheads
auf Obdachlose oder Behinderte als politisch motiviert registriert
werden.
Polizei und Justizbehörden tragen dem jedoch häufig nicht Rechnung.