Inforiot dokumentiert an dieser Stelle die Debatte um das Geständnis eines Berliner FAU –Mitglieds, der sich nach einer Veranstaltung in Potsdam als Vergewaltiger bekannte. Dieser Text ist eine Replik auf eine Stellungnahme des Linken Bündnisses Potsdam. Du findest diesen Text hier.
Das Gedächtnisprotokoll auf den in diesem Text Bezug genommen wird, findest du
hier.
Die Stellungnahme der F.A.U. Potsdam findest Du hier.
Wir möchten Euch hiermit den derzeitigen Stand unseres Diskussionsprozesses mitteilen:
Am Abend des 31.10.06 äußerte sich nach der Gala in Potsdam ein Genosse des Allgemeinen Syndikates Berlin der FAU im Gespräch mit weiteren sechs Anwesenden, davon eine Frau, in Bezug auf einen Vorfall von vor etwas mehr als 20 Jahren mit seiner damaligen Freundin: “…im Prinzip war es eine
Vergewaltigung…”. Auf genauere Nachfrage der Anwesenden verstieg er sich unreflektiert in unsensible und provokante Äußerungen zu dem Vorfall.
Die Äußerungen unseres Genossen an besagtem Abend finden wir völlig inakzeptabel und unentschuldbar. Vor dem Hintergrund einer schwindlig machend hohen Rate von Frauen, die dramatische Erfahrung mit sexueller Gewalt (sowohl außerhalb als auch in Beziehungen) haben, sollte sich jeder bewusst sein, dass mensch jederzeit mit einem unsensiblen Umgang mit dem Thema bei anderen Leuten auf tiefsitzende Traumata treffen kann.
Wir verurteilen dieses Verhalten unseres Genossen an besagtem Abend entschieden.
Es gibt keinen Vorwurf einer Frau, sie wäre von unserem Genossen vergewaltigt worden. Wenn das Ziel von Sanktionen (z.B. von Auschluss) der Schutz der betroffenen Person sein soll, sehen wir aktuell keinen Grund für einen Ausschluss.
Wir gehen davon aus, dass von dem betreffenden Genossen keine Gefahr für Frauen ausgeht. Von seinen Genossinnen im Syndikat wird er nicht als Gefahr wahrgenommen.
Um klarzuhaben, ob es sich — nach der faktischen Selbstbezichtigung unseres Genossen — um eine Vergewaltigung handelte, würden wir es als sachliche Notwendigkeit sehen, das (eventuelle) Opfer von damals zu befragen. Das Definitionsrecht hat unserer Ansicht nach ausschließlich die von sexueller Gewalt betroffene Frau.
Der Genosse selbst hat später auf mehreren Sitzungen des Asy zu dem Thema dargelegt, er hätte bewusst übertrieben, um zu “provozieren”. Warum, ist nicht mehr nachvollziehbar. Diese Aussagen stellen unsere einzige Grundlage dar, wenn wir die Geschehnisse von damals und seinen heutigen Umgang damit beurteilen wollen. Entgegen seinen Äußerungen an besagtem Abend habe er seiner damaligen Freundin nie Gewalt angetan oder sie zum Sex gezwungen. Das ist keine Entschuldigung für seine inakzeptablen Äußerungen am Abend nach der Gala. Aber es erscheint uns unberechtigt, einfach davon auszugehen, daß er seine damalige Freundin vergewaltigt hätte. Das heißt: der Gegenstand — Vergewaltigung damals — ist von uns nicht ausgeräumt, aber auch nicht erwiesen. Jeder Mensch sollte sich bewusst machen, dass es einen Unterschied zwischen einer Äußerung und ihrem Inhalt gibt, daher einen Unterschied zwischen sexueller Belästigung in der Wortwirkung, und dem Inhalt “ich bin ein Vergewaltiger”, der unrichtig sein kann.
Solange wir da keine Klarheit haben, halten wir einen Ausschluss unseres Genossen aus dem Allgemeinen Syndikat nicht für gerechtfertigt. Bei der Sanktionsfrage sehen aber zumindest wir gegenwärtig das Problem nicht in dem Vorfall vor über 20 Jahren, sondern in dem Verhalten des Genossen am Abend der Potsdamer Soligala und in unserem heutigen Umgang mit dem Vorfall. Das ist der Bereich, über den wir als Syndikat der FAU jetzt entscheiden können und müssen.
Konsequenzen, die wir aus dem Vorfall ziehen, und Diskussionen, die wir derzeit führen
Wir möchten das Ereignis am Abend nach der Gala in keiner Weise bagatellisieren. Vielmehr halten wir Konsequenzen für notwendig. Folgende Schritte haben wir unternommen bzw. werden wir im weiteren Verlauf unternehmen:
1. Auf einer kurzfristig einberufenen Vollversammlung der FAU Berlin Anfang November haben Anwesende bereits die Vorkommnisse an besagtem Abend verurteilt und dazu Stellung bezogen.
2. Wir erwarten eine schriftliche Klarstellung unseres Genossen, aus der hervorgeht, wie er über sein Verhalten an besagtem Abend denkt. Und ebenso, wie er zu männlicher Dominanz gegenüber Frauen allgemein steht.
Diese Klarstellung wird über unser weiteres Verhalten als Allgemeines Syndikat Berlin in dieser Sache mit entscheiden.
Dass die Reflexion über den 31.10.2006, Potsdam, bei unserem Genossen nicht abgeschlossen ist, müssen wir kritisch zur Kenntnis nehmen. Wir stellen zur Zeit fest, dass wir bei ihm auf einen zweifelhaften Umgang mit seinem Verhalten treffen und daß er verbale sexistische Umgangsformen so unzureichend reflektiert hat, dass er damit auffällig wurde. Uns ist bewusst, dass Reflexion ein stetiger Prozess ist. Einen Ausschluss, der in der FAU das äußerste Mittel darstellt, ziehen wir aber erst dann in Betracht, wenn sich im Laufe der gemeinsamen Auseinandersetzung mit der Sexismusproblematik zeigen sollte, dass er die Probleme nicht zu erfassen und anzuerkennen vermag, so dass wir befürchten müssen, dass er seine Verhaltensweisen wiederholen könnte.
3. In der Tat hatten wir uns als Organisation bisher zu wenig damit beschäftigt, als dass wir klar gehabt hätten, wie wir intern und extern bei einem solchen Problem verfahren. Darüber hinaus sehen wir im weiteren
Sinne das Problem nicht nur auf die betreffende Person beschränkt, sondern sind uns im Klaren, dass diese Prozesse uns alle betreffen, weswegen es nicht um “Therapie” und “Buße” eines Einzelnen gehen kann. Das Verhalten der männlichen Genossen im Allgemeinen Syndikats Berlin ist — durchaus immer wieder angestoßen durch Genossinnen des ASy‑B — seit diesem Vorfall ein wichtiges Auseinandersetzungsthema für uns. Diese Auseinandersetzung ist längst noch nicht abgeschlossen. Einen Workshop zu diesem Thema bereiten wir derzeit vor.
4. Mit unserem Genossen setzen wir uns in fortlaufenden Gesprächen auseinander. Von diesen Gesprächen erhoffen wir uns eine Weiterentwicklung und verstärkte Einsicht und Reflexion der eigenen Verhaltensweisen aller Beteiligten.
An dieser Stelle möchten wir eine Begründung unseres Vorgehens skizzieren.
Unser Umgang mit solchen Problemen ist unter anderem im Konzept der FAU begründet. Als gewerkschaftliche Organisation haben wir ganz bewußt einen Ausbruch aus der Isolation der “linken Szene” gewählt — bei allen
gemeinsamen Arbeitsfeldern, die weiterhin bestehen — und die Organisation am Klassenkampf ausgerichtet. Folglich treten Menschen aufgrund konkreter Probleme und mit dem Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung ein, oftmals ohne vorherigen linken oder linksradikalen Hintergrund. Einige Diskussionen, wie z.B. über Sexismus, führen sie bei uns zum ersten Mal.
Wir erarbeiten uns bestimmte Standpunkte erst im Laufe der Zeit. Dabei wissen wir, daß niemand von uns jemals wirklich frei von Sexismen, Rassismen und anderen reaktionären Verhaltensweisen sein wird — dafür sind diese Probleme zu sehr in der vorherrschenden gesellschaftlichen Struktur verankert und lassen sich nicht auf die persönliche Ebene reduzieren. Wir setzen gewisse Punkte voraus, wenn Leute der FAU beitreten, wissen aber auch, daß Verhaltensweisen ein Gegenstand von Entwicklung sind.
Die FAU ist ein Versuch, sich nicht nur gemeinsam weiterzuentwickeln, sondern vor allem die hierarchischen Strukturen anzugreifen und zu überwinden,
die gegenwärtig die Gesellschaft dominieren.
Selbstverständlich ist ein Raum, in dem die Zwänge möglichst gering sind, wo die Angst vor Übergriffen oder Stigmatisierung nicht mehr so groß sein muss, etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Als das sollte mensch es dann auch begreifen, als notwendigen Rückzugsraum — nicht mehr, nicht weniger.
Wenn wir als Allgemeines Syndikat Berlin die Probleme aber wirklich attackieren wollen, dann geht das nicht, indem einzelne Menschen verbannt oder exemplarisch für ein gesellschaftliches Problem verurteilt werden. Es
darf auch nicht darum gehen, uns selbst moralisch reinzuwaschen, indem wir uns Personen durch Ausschluss oder ähnliches vom Leib halten.
Ein (sofortiger) Rausschmiß betreffender Personen würde bedeuten, dass sie womöglich kein Umfeld mehr haben, das sie kritisiert, mit dem sie gemeinsam sich weiterentwickeln, so dass sie sich nicht mehr damit
auseinandersetzen müssen oder es einfach gar nicht mehr können.
Nicht nur wollen wir den Menschen die Zeit und die Möglichkeit geben, reaktionäre Verhaltensweisen abzulegen, wir halten es auch für unerlässlich im Sinne der Verantwortung, die wir tragen. Hierin unterscheidet sich anarchistisches Verständnis vom Umgang mit “Delinquenten” von dem bürgerlichen, das seine Problemfälle einfach aus dem Gesichtskreis verbannen will.
Wir sind der Überzeugung, dass Menschen sich verändern, und der Wille zur Veränderung von Mensch und Gesellschaft ist eine der Grundlagen für ein emanzipatives Wirken. Entscheidend ist unserer Ansicht nach die
Erkenntnis, dass Menschen von den Bedingungen, unter denen sie aufgewachsen sind und leben, geprägt werden, aber ihre eigene Verantwortung erkennen können und müssen, um sich zu verändern. Erscheint solche Veränderung nicht erkennbar, dann haben wir allerdings die Notwendigkeit zum Ausschluss.
5. Alle diejenigen, die mit uns über die Thematik oder über unseren Umgang damit diskutieren möchten, laden wir hiermit ein, sich direkt an uns zu wenden: Allgemeines Syndikat Berlin FAU-IAA (asy‑b(a)fau.org)
Wir als GenossInnen des Asy‑B glauben nicht, dass wir die Weisheit mit Löffeln gefressen hätten. Bisher sind wir nicht zum Abschluß unserer Auseinandersetzung mit der ganzen Angelegenheit oder mit unseren eigenen
Verhaltensweisen gekommen — das ist ein Prozess. Da wir jeder/jedem die Möglichkeit geben, sich an uns zu wenden, werden wir allerdings nicht zu allem und jedem Stellung nehmen können, was über uns oder unseren Genossen gesprochen und geschrieben wird. Bei aller Wichtigkeit, die wir diesem Thema beimessen, möchten wir doch weiterhin in erster Linie gewerkschaftlich tätig bleiben bzw. auch weiterhin Energie für Arbeitskämpfe verwenden.
Abschließend bitten wir alle an Informationen oder Diskussion Interessierten, Anfragen oder Diskussionsbeiträge ausschließlich an das Allgemeine Syndikat Berlin asy‑b(a)fau.org zu richten. Die anderen
Syndikate der FAU Berlin wie auch sämtliche anderen Ortsgruppen und Syndikate oder auch die bundesweite FAU sind nicht verantwortlich für Entscheidungen, die unseren Genossen oder unsere eigene Position betreffen.
Das Allgemeine Syndikat Berlin (ASy‑B) der Freien ArbeiterInnen Union (FAU-IAA) im Januar 2007