F: Was erwarten Sie ganz allgemein von dieser Berlinale?
Was ich raushöre aus den Gesprächen: Das Interesse an der rauhen Wirklichkeit soll größer geworden sein, bei Detlev Buck zum Beispiel. Es werden wieder relevante Fragen gestellt. Egal, ob das jetzt ein Trend ist. Ich denke nicht in Trends, habe nur diesen Anfangsverdacht.
F: Besuchen Sie die Vorführungen Ihres Films »Der Kick«?
Alle vier. Ich hoffe, daß die Türen gut geölt sind. Sicher werden manche früher gehen, weil sie nicht wissen, was das soll. Eine ältere Frau spielt einen 18jährigen, ein Mann spielt dessen Mutter … – in 20 Rollen bilden diese zwei Schauspieler einen Dorfkörper. Gleichzeitig erscheinen ihre Gesichter als Landschaften, wenn beispielsweise ein Zucken ums Kinn sichtbar wird, das auf dem Theater verschenkt wäre.
F: Sie haben bisher mit eher konventionellen Dokumentarfilmen ein immer breiteres Publikum erreicht. Ihre letzten beiden Filme, »Black Box BRD« und »Die Spielwütigen«, hatten viele Zuschauer. Entsprechende Erwartungen sind inzwischen mit einem Veiel-Film verknüpft, auch flache Erwartungen. »Der Kick« besorgt deren herbe Enttäuschung, wirkt im Vergleich fast wie ein Selbstmordattentat mit Kassengift. Ist das Kalkül?
Das ist dem Stoff geschuldet. Normalerweise rückt die Suggestion der Gewalt im Film näher, so daß man sich in ihr verlieren kann. Würde »Der Kick« vordergründig zur Identifikation einladen, und sei es mit irgendeiner x‑beliebigen 1:1‑Abbildung: so ist Potzlow, seht her – es liefe auf eine Zelebrierung von Gewaltstrukturen hinaus. Die Abstraktion kam also aus der Entscheidung heraus, Überwältigung zu vermeiden, Distanz zu wahren. Das Ursachengestrüpp soll zum Thema werden. Das sind keine monströsen Eltern, die ihre Kinder geschlagen haben und Schluß – die Täter kommen vielmehr aus der Mitte der Gesellschaft. Das ist ihre Monstrosität.
F: Aus der Mitte der BRD? Nicht eher von den brandenburgischen Rändern?
Einerseits ist das eine Region ohne Lobby, eine, die aufgegeben worden ist. 75 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung im Dorf sind arbeitslos. Alle, die können, ziehen weg. Auf die ökonomische Verkarstung folgt die soziale und unter Umständen die emotionale. Aber dieser Ablauf ist eben universell. Und mittlerweile sind auch Regionen betroffen, von denen man das nie gedacht hätte, in der Schweiz zum Beispiel. Potzlow ist überall, könnte man sagen. Es gibt also spezifische neben universellen Aspekten.
F: Welche sind denn spezifisch?
Dazu zählt die Dynamik des Abends, der Konstellation. Es gab keinen Vorsatz. Die Jungen sind keineswegs losgezogen, einen aufzuklatschen, wie das der Bürgermeister gesagt hat. Daß der Abends so verlaufen ist, hat mit Hierarchien zu tun, mit Wettbewerblichkeit, mit Männlichkeitsritualen, denen Demütigungserfahrungen zugrunde liegen. So wird die eigene Wertlosigkeit, die Ohnmacht, das Nicht-Mehr-Gebraucht-Werden kompensiert.
F: Das ist schon wieder universell.
Ja. Es gab ja anderswo auch ähnliche Fälle, etwa einen Bordsteinkick in der Nähe von Bremen. Der endete allerdings nicht tödlich. Es stimmt schon: wenn einer wehrlos auf dem Boden lag, war früher Schluß. Heute fängt es an. Diese Verrohung hat zum einen mit immer schlimmeren Ohnmachtserfahrungen zu tun; zum anderen damit, daß Tätergewalt in den Medien zelebriert wird, während die Opfer ausgeblendet bleiben. So auch bei »American History X«. Der Film lief zweimal im deutschen Fernsehen. Etwa fünf Millionen haben den Bordsteinkick dieses Neonazis gesehen. Wichtig ist sein nackter, gestählter Oberkörper. Und daß er mit dem Mord den Polizisten trotzt, die bereits eingetroffen sind. Geschnitten wird nach dem Kick nicht auf das Opfer, einen schwarzen Autodieb, sondern auf den jüngeren Bruder des Täters, der erschrocken ist, und voller Bewunderung. Für zwei von fünf Millionen Zuschauern war diese Szene handlungsauslösend. Man sollte den Film deshalb nicht zensieren, aber an Schulen besprechen, wie er wirkt. Die spätere Läuterung der Filmfigur ist dabei unerheblich. Auch Marcel Schönfeld hat erklärt, daß »American History X« ein Film gegen rechte Gewalt ist. Es geht hier nur um die Wirkung dieser einen Szene.
F: Wie entscheidend war die Naziideologie an diesem Abend in Potzlow?
Von den anderen Neonazis im Dorf wurden die Täter nicht so recht ernst genommen. Arbeit spielte bei ihnen keine große Rolle. Mit dem Wert der Familie, des Nachwuchses, war es bei ihnen nicht weit her. Umso größer war ihr Antrieb, jemanden zu finden, der weniger wert ist. Sie haben Marinus Schöberl vollgepinkelt. Als er sich den Urin nicht von Gesicht und Kleidung wischte, war bewiesen: Das ist ein Schwein. Als er zugab: Ich bin ein Jude, hörten sie nicht auf wie versprochen. Der Entmenschlichungsprozeß wurde von dem Geständnis sogar noch beschleunigt. Das Herrenrassetum hat also eine Rolle gespielt an diesem Abend, aber letztlich bedienten sich die Täter nur passender Zitate. Wenn man sie fragt, was das bedeutet, Jüdisch-Sein, kommen nur hohle Stürmer-Zitate: krummer Rücken, lange Nase … – damit läßt sich diese Vernichtung nicht erschöpfend erklären. Es gibt in diesem Film keine Lösung, keinen Ausgang, keine Katharsis. Am Ende bedient noch die letzte positive Figur, die Mutter des Opfers, ausländerfeindliche Ressentiments. Der Film soll wie ein Geschoß sein, das im Zuschauer steckenbleibt. Es bringt eben nichts, vorauseilend auf irgendeinen Publikumsgeschmack zu schielen. Die, die ihn wirklich gut finden, gehen hoffentlich zwei‑, dreimal rein.
Interview: Alexander Reich
* “Der Kick” nach dem gleichnamigen Stück von Andres Veiel und Gesine Schmidt, BRD 2005, Regie: Andres Veiel, 82 min, Premiere am 12. Februar, 17 Uhr, Kino International, weitere Vorführungen 13., 16. und 19. Februar