BAD WILSNACK Welche körperlichen und seelischen Qualen die Juden in den Konzentrationslagern der Nazis erleiden mussten, ist aus heutiger Perspektive kaum vorstellbar. Deshalb schlagen viele dieses dunkle Kapitel der deutschen Geschichte erst gar nicht auf und ignorieren es. Dem wollen die pensionierte Lehrerin Ulla Seeger aus Bad Wilsnack und Thomas Irmer, Politologe und Mitarbeiter der Gedenkstätte Sachsenhausen, entgegen wirken. Die beiden arbeiten an einer Broschüre zum KZ-Außenlager in Glöwen, die Aufschluss über die politischen und geschichtlichen Hintergründe seiner Entstehung geben und zugleich das Leben der 771 jüdischen Gefangenen beleuchten soll. Authentische Berichte von Zeitzeugen sollen in die Dokumentation über Glöwen einfließen.
Ulla Seeger reist Ende dieses Monats nach Israel, um die beiden Zeitzeugen Ester Zilberstein und Joseph Rotbaum zu interviewen. Sie gehören zu den Überlebenden des Holocausts, die einige Zeit in Glöwen inhaftiert waren und im April dieses Jahres anlässlich des 60. Jahrestags der Befreiung des Konzentrationslagers Sachsenhausen in die Prignitz kamen. “Ich möchte den Lebensweg der beiden im Detail darstellen, etwa wo ihr Elternhaus stand, wann sie deportiert wurden und welche Stationen sie auf dem Weg durch die Konzentrationslager zurücklegen mussten”, sagt sie. Zudem gebe es noch viele ungeklärte Fragen, das Außenlager Glöwen betreffend: ob es dort eine ärztliche Versorgung gab oder wie das Verhältnis zu den Aufsehern und Aufseherinnen war. Bislang existiere noch keine Skizze des Lagerbereichs, in dem die Frauen untergebracht waren. Weitgehend unbeleuchtet sei auch, wie es den 500 Frauen auf ihrem Marsch nach Ravensbrück und bis zur Befreiung ergangen sei. “Mir geht es natürlich auch um die Gefühle und Gedanken von Ester Zilberstein und Joseph Rotbaum in dieser schweren Zeit”, betont die Geschichtsforscherin.
Gleich nach ihrer Ankunft wird Ulla Seeger in Tel Aviv mit Holocaust-Überlebenden im Haus der Schriftsteller zusammen kommen und den Ablauf ihres Aufenthalts in Israel absprechen. Neben den Interviews wird sie auch Portrait- und Gruppenbilder von den Zeitzeugen für die Broschüre anfertigen.
Ihre ersten Forschungen zum KZ-Außenlager Glöwen unternahm Ulla Seeger bereits im Jahre 2003. Sie leitete die Arbeitsgruppe “Spurensuche” an der Gesamtschule Bad Wilsnack, der vier Jugendliche angehörten. Gemeinsam mit ihrer Lehrerin erstellten sie eine Dokumentation über das Lager und nahmen erste Kontakte zu heute noch lebenden Zeitzeugen auf. Am 1. September vergangenen Jahres enthüllten sie gemeinsam mit Gästen aus Israel ein Mahnmal zum Gedenken an das KZ-Außenlager in Glöwen. Dieses Engagement der Schüler ist inzwischen von den Holocaust-Zeitzeugen selbst gebührend gewürdigt worden. In seinem unlängst erschienenen Buch “Überlebende von Sachsenhausen erzählen” widmet Abram Lancman, der bereits mehrmals in der Prignitz zu Gast war, der Arbeitsgruppe “Spurensuche” ein ganzes Kapitel. Den erläuternden Text zum Projekt schrieb Ulla Seeger. Zudem enthält das Buch Fotos von der feierlichen Enthüllung des Gedenksteins. Auch das letzte Bild in der Dokumentation ist wie ein symbolischer Fingerzeig den jungen Geschichtsforschern gewidmet. Es zeigt Maria Pöschel, Annekathrin Martinu, Arne Sirrenberg und Ingo Schultz in Begleitung ihrer einstigen Lehrerin Ulla Seeger.