OSTPRIGNITZ-RUPPIN Der 83-jährige Zeitzeuge Pavel Stránský ist am Mittwoch Opfer rechtsradikaler Pöbeleien geworden, als er in der Wittstocker Gesamtschule über seine Leidens-Odyssee durch drei Konzentrationslager berichten wollte. Während eine Schülerin seinen Vortrag demonstrativ durch laute Worteinwürfe störte und von der Lehrerin des Raumes verwiesen wurde, drang ein anderer Schüler in den Raum ein und schrie den Vortragenden an: „Du bist ein Jude!“
Stránský ist einer von wenigen tschechischen Juden, die die Deportation in das Vernichtungslager Birkenau überlebt haben. Der polyglotte Prager ist weltweit unterwegs, um seine Erlebnisse zu schildern und hat mehrere Schulen in Ostprignitz-Ruppin besucht. Die Vorfälle von Wittstock sind „schmerzlich“ gewesen, sagte Stránský den Schülern des Evangelischen Gymnasiums gestern bei seiner Station in der Fontanestadt.
Die auffällige Schülerin wolle sich jetzt kaut Lehrerin Ute Meier, die die Zeitzeugenreise begleitet, bei Pavel Stránský entschuldigen. Gegen den Schüler sei Anzeige erstattet worden. Polizeisprecherin Beatrix Kühnbestritt dies allerdings: „Nach vorliegenden Informationen lieget eine Anzeige zu solch einem Fall nicht vor.“
„Nein, den Glauben an Gott habe ich verloren. Das einige woran ich glaube, ist die Liebe.“
„Schaut zum Horizont“, haben Mithäftlinge die Neuankömmlinge im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau begrüßt. „Seht ihr den Rauch aus dem Schornstein steigen? Das ist der einzige Ausweg hier.“ Pavel Stránský hatte Glück. Für ihn sollte es noch einen anderen Weg geben.
Gestern erzählte der Holocaust-Überlebende den Schülern des Evangelischen Gymnasiums von seiner Odyssee durch drei Konzentrationslager. Es war eine Odyssee der Leiden, die die etwa zwanzig Schüler des Deutschkurses der zwölften Klasse zu hören bekamen: Unvorstellbare Kälte, steter Hunger und Demütigungen musste Pavel Stránský über sich ergehen lassen.
„Mein Vater hat das Unheil kommen sehen, als die Nazis 1938 unser Land besetzten“, erzählte der 83-jährige Prager in einwandfreiem Deutsch den aufmerksam lauschenden Schülern. Der Vater hinterließ seinem Sohn Pavel und der Frau nur einen Abschiedsbrief und eine leere Schlaftablettendose. Stránský hatte einen triftigen Grund, es ihm nicht gleich zu tun, auch wenn 1938 die Repressalien bereits unerträglich geworden waren. Denn er war verliebt. „Wir wollten heiraten“, erzählte er über seine Beziehung zu Vera, ebenfalls Jüdin, „und hatte Eheringe schon gekauft – aus Edelstahl, Gold ist uns abgenommen worden.“
Im Dezember 1943 wurden Vera und Pavel, der inzwischen Lehrer war, zusammen mit den Müttern nach Theresienstadt deportiert. Irgendwann sollte Pavel dem Weg folgen, den seine Mutter zuvor schon gehen musste – „in den Osten“ wie es damals nur hieß. Vera wollte ihn nicht alleine gehen lassen und sie heirateten in Theresienstadt. Ohne die Ringe, die Pavel bei seiner Tante abgegeben hatte.
„Wir wurden dann in Viehwaggons gepfercht. Es gab nur einen Eimer für die Notdurft. Zwei Nächte und einen Tag lang hatten wir nichts zu essen und zu trinken.“ Barfuß im Schnee angekommen gab es „die letzte Demütigung“: „Wir bekamen eine Nummer tätowiert und verloren unsere Namen.“ Dass Vera die kargen Essensrationen für die Lagerinsassen austeilte, war ein Glück für beide. Sie durfte die Behälter auskratzen, was für sie eine zweite und überlebenswichtige Ration bedeutete. Stránský hatte außerdem das Glück, bei einer Art Projekt mitwirken zu dürfen: einem Block für Kinder. „Hier schufen wir eine Märchenwelt. Es war keine schwere Arbeit und wir hatten ein Dach.“ Unter anderem probten sie Stücke mit Kindern ein, Stücke voll Hoffnung uns Optimismus. Die wurden vor Nazi-Personal aufgeführt. „Mengele, der berüchtigte Lagerarzt, nahm danach oft die Kinder auf seinen Schoß“, erinnerte sich Pavel Stránský. „’Nennt mich Onkel’, hat er gesagt und sie später vergasen lassen.“ Der Arzt spielte auch Schicksal in seinem Leben.
Als in den letzten Jahren des zweiten Weltkrieges immer mehr Juden angeliefert und vergast wurden, wurde Pavel Stránský wie einige andere bei einem Laufappell durch einen kurzen Wink Mengeles herausselektiert: Er kam nach Schwarzheide bei Dresden und wurde Zwangsarbeiter. Im Mai 1945 überlebte er den Todesmarsch und landete wieder in Theresienstadt. Von dort schaffte er den Weg zurück nach Prag.
Auch seine Frau fand den Weg aus Auschwitz heraus und überlebte sogar eine Typhuskrankheit. Über die Zeit des Holocaust wollten die beiden bis vor wenigen Jahren nicht reden. Das er es jetzt tue, sehe er als „moralische Pflicht“, auch wenn es zu einzelnen Ausfällen komme. Jüngst erlebte er in Wittstock etwas, was ihn geschmerzt habe. Die gute Reaktion der Mehrheit der Schüler darauf habe ihn aber bestärkt.
Die Evi-Gymnasiasten zeigten sich mit der Deutsch-Lektüre „Der Vorleser“ von Bernhard Schlink im Gespräch gut informiert und interessiert. Ihre Fragen fokussierten sich auf den Umgang mit der Vergangenheit. Wieso hat er beispielsweise so lange geschwiegen? „Das Schicksal der Juden war lange Zeit tabu. Gerade meine Frau hat nie ein Wort dazu gesagt. Nicht mal zu unseren Söhnen.“
Zur Frage, ob das Schicksal seine Religiosität beeinflusst habe, sagte er: „Nein, den Glauben an Gott habe ich verloren. Das einige woran ich glaube, ist die Liebe.“ Der Ring, den er gestern trug, hat immer noch die Prägung „Edelstahl“.