Schüler des Duncker-Gymnasiums Rathenow diskutieren in Berlin mit Michel Friedmann
(MAZ, Anne Kathrin Bronsert) BERLIN Der erste Eindruck, den der Besucher vom Jüdischen Museum in Berlin bekommt,
gleicht dem eines Flughafens: Wie beim Check-in durchleuchtet
Sicherheitspersonal Rucksäcke und Jacken. Eine Mitarbeiterin des Museums in
der Lindenstraße bringt die Schüler der elften und zwölften Jahrgangsstufe
des Duncker-Gymnasiums Rathenow zur Garderobe.
Vom Architekten Daniel Libeskind entworfen, thematisiert der Bau des
Jüdischen Museums den Holocaust. So existieren innerhalb der untersten Etage
drei Achsen. “Sie versinnbildlichen die drei unterschiedlichen
Lebenssituationen der Juden im Nationalsozialismus”, erläutert der
Museumsführer Alexander. Die Verbannung der Juden werde in der “Achse des
Exils” dargestellt. Zu Beginn des weißgetünchten Ganges steht dieser
Schriftzug auf der Wand, auf die in grauer Schrift auch Städte geschrieben
stehen, in die Juden vor den Nationalsozialisten geflüchtet sind.
Folgt der Besucher diesem Gang, gelangt er in den “Garten des Exils”. Dies
ist der einzige Ausgang aus dieser Etage. Reihen breiter Betonpfeiler ragen
aus einer schiefen Ebene empor: Indem die Museumsbesucher durch sie
hindurchgehen, sollen sie die Orientierungslosigkeit der jüdischen
Flüchtlinge erahnen können.
Dann begibt sich die Schülergruppe in die eigentliche Ausstellung “Jüdisches
Leben — Jüdische Traditionen”. Der Führer erklärt Alexander die Bedeutung
des Sabbats. Dieser Tag ist für Juden das, was für Christen der Sonntag ist.
An diesem Tag arbeiten streng gläubige Juden nicht, sondern gedenken dem Akt
der Schöpfung.
Deshalb verzichten sie darauf, Feuer zu entfachen oder Strom an- und
auszuschalten. Aus diesem Grund kann das Essen für diesen Feiertag nur am
Vortag zubereitet und muss anschließend warm gehalten werden.
Am Ende der Einführung in die Traditionen jüdischen Lebens haben die Schüler
die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Anschließend ist kaum noch Zeit, um sich
den großen Teil der Ausstellung anzuschauen, den die Gymnasiasten während
der Führung nicht gesehen haben.
Die Stiftung “Begegnungsstätte Gollwitz” hatte die Rathenower Schüler zum
Besuch des jüdischen Museums und zur Diskussion mit Michel Friedman
eingeladen — mit dem Ziel neben dem Antisemitismus andere Blickwinkel zum
Thema Judentum zu eröffnen.
Michel Friedman, Rechtsanwalt, Politiker und Fernsehmoderator war
stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland und
Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses. Dies und einiges anderes
wissen die Rathenower Jugendlichen, bevor sie ihn kennen lernen.
Als Vorsitzender des Stiftungskuratoriums der Stiftung Begegnungsstätte
Gollwitz übernimmt Konrad Weiss die Moderation des Gesprächs und stellt
Friedman kurz vor. Daraufhin richtet dieser einige Fragen an die Schüler, um
ihnen zu zeigen, dass nicht er, sondern sie im Mittelpunkt stehen: “Was
assoziieren sie mit Juden, wie sind sie das erste Mal mit dem Judentum in
Berührung gekommen?” Es stellt sich heraus, dass viele Schüler bei diesem
Thema besonders an den Holocaust denken.
Aus diesem Grund macht Friedman, braun gebrannt und mit gegeltem Haar,
deutlich, wie anders sein Verhältnis zu diesem Höhepunkt des Antisemitismus
ist: “Ich definiere mich als Jude nicht über den Holocaust, sondern über die
Traditionen meiner Religion.”
Er sehe die planmäßige Verfolgung und Vernichtung der Juden durch die
Nationalsozialisten vor allem als einen wichtigen Teil der deutschen,
weniger aber der jüdischen Geschichte an. “Ich bin wütend auf die
Generation, die die Verbrechen des Nationalsozialismus zu verantworten hat.
Dieses Gefühl muss jeder Jude verarbeiten. Allerdings bin ich nicht wütend
auf die junge Generation, es sei denn, jemand banalisiert den Holocaust oder
hat Vorurteile gegenüber Juden oder Menschen, die anders sind.”
Antisemitismus zeige, wie schnell Menschen eine Meinung annehmen, ohne diese
zu hinterfragen. Deshalb trage jeder Deutsche die Verantwortung, sich von
Voreingenommenheiten zu lösen und nicht zu generalisieren.
Dies machte Friedman am Beispiel von Witzen deutlich: “Egal ob man über
Juden, Ausländer oder auch Blondinen lacht — man stellt nicht die zu Grunde
liegenden Vorurteile in Frage.” Jedes Mal, wenn jemand nicht gegen
Stereotypen und damit Ausgrenzungen protestiere, gefährde er auch seine
eigene Freiheit. “Schließlich können sich Vorurteile auch bald gegen ihn
selbst richten”, erklärt Friedman.
Insgesamt gelingt es Friedmann, Gedanken bei den Schülern anzuregen, ihnen
bewusst zu machen, wo Diskriminierung beginnt; gleichzeitig fühlen sich die
Jugendlichen aber auch in ihrer bisherigen, toleranten Einstellung
bestätigt.