Demonstration zum 2. Jahrestag der Ermordung des Dahlewitzer Obdachlosen
Dieter Manzke
Sonntag, 10. 8. 2003
14 Uhr — S‑Bahnhof Blankenfelde
“Sieben Uhr aufstehen, Kaffee trinken,
zur Arbeit fahren, freundlich sein, den Chef grüßen,
nicht sagen, was ich denke, nicht denken, was ich sage.
Ich möchte am liebsten tot sein und von allem nichts mehr sehen.
Ich möchte am liebsten tot sein und von allem nichts mehr sehen.”
(aus: Ton Steine Scherben: “Warum geht es mir so dreckig?”, 1971)
Am 10.8.2003 jährt sich zum zweiten Mal die Ermordung des Dahlewitzer Obdachlosen Dieter Manzke durch deutsche Jugendliche. Dieter ist nur einer von vielen Obdachlosen, die in den letzten Jahren unter den Tritten und Schlägen solcher selbsternannter „Ordnungsstifter“ zu Tode kamen. Eine von der Berliner Obdachlosenzeitung motz vor einiger Zeit veröffentlichte Chronik kommt auf bundesweit 374 Übergriffe zwischen 1989 und 1993. 253 davon endeten tödlich. Und auch in den Folgejahren nahm die Gewalt nicht ab. Mindestens 276 Angriffe auf wohnungslose Menschen soll es zwischen 1997 und 1999 in ganz Deutschland gegeben haben.
Der staatsoffiziellen und von weiten Teilen der Gesellschaft mitgetragenen Hetze gegen Arbeitslose, SozialhilfeempfängerInnen und Obdachlose sowie der Abschaffung historisch erkämpfter sozialer Rechte der lohnabhängigen Menschen in diesem Land, wie sie unter dem Namen „Hartz-Papier“ und „Agenda 2010“ daherkommen, wollen wir an diesem Tag mit einer lautstarken Demonstration entgegentreten. Uns ist es jedoch mitnichten um das Abfeiern eines vermeintlich „humaneren“, weil „sozialstaatlich gebändigten“ Kapitalismus zu tun, sondern um ein Leben jenseits von kapitalistischer Ausbeutung und Lohnarbeitszwangs.
„Die Leidenschaften von heute bleiben ein bloßer Abdruck von den Leidenschaften, die möglich wären. Behalte immer die Tatsache im Auge, dass die Gesellschaft bestrebt ist, Dir Dein ganzes Leben vorzuenthalten.“
(aus: Subrealistische Bewegung: „Einige Ratschläge für Unzufriedene“, 1981)
„Arbeit schändet nicht“ – diese reaktionäre Parole steht in Deutschland von jeher hoch in Kurs. Während der letzten Jahrhunderte hat sich in den Köpfen der Deutschen ein ideologisches Arbeitsethos verfestigt, dessen man schon bei Martin Luther fündig wird, welcher die „produktive Arbeit“ verherrlichte.
Angesichts der alltäglichen Entfremdungserfahrung, der Verarmung der zwischenmenschlichen Beziehungen und dem Gefühl des ohnmächtigen Ausgeliefertseins in der kapitalistischen Lohnarbeit ist dieses Hohelied auf die „tugendstiftende Arbeit“ ein zynischer Schlag ins Gesicht einer jeden Lohnabhängigen – oder sollte es zumindest sein.
Die bundesdeutschen Lohnabhängigen sind willige SklavInnen des Kapitals, die froh darüber sind, sich täglich verkaufen zu dürfen, statt die Lohnarbeit als das sozioökonomische Zwangsverhältnis zu begreifen, das sie ist. Demütig wird auch noch die letzte Schweinerei von Staat und Kapital akzeptiert — Hauptsache, man hat noch einen Arbeitsplatz. Schlimmer noch: jede, die sich nicht freudestrahlend und von Standortnationalismus erfüllt für 2 ? die Stunde verkaufen möchte, wird mit dem kollektiven Bannfluch belegt. Es scheint ein inoffizieller Wettbewerb in diesem Land zu laufen, in dem einer den anderen zu überbieten sucht in punkto Vorschlägen, wie man Lohnabhängigen und Arbeitslosen das Leben noch wirksamer zur Hölle machen könnte.
Der Kapitalismus als gesellschaftliches Produktionsverhältnis konsumiert unsere Arbeitskraft und privatisiert den gesellschaftlichen Reichtum, es stiehlt uns unsere Lebenszeit, beschränkt unsere Bedürfnisbefriedigung durch die Höhe des Lohns, diktiert uns „unseren“ Lebensrhythmus – die Gesellschaft als eine einzige riesige Fabrik. Viele haben sich längst mit ihrem „Schicksal“ als LohnsklavInnen abgefunden – buckeln, schuften und Groschen zählen bis zur Bahre.
„Jeden Morgen beginnt ein neuer Tag, der dem anderen gleicht. Die Menschen erzählen sich ihre Träume und erleben den generalisierten Alptraum. Sie scheitern wie Fliegen, überleben dahin und sterben wie diese Gesellschaft durch sich selbst gestorben ist. Die heutige Welt ist ein Totenhaus.“
(aus: Subrealistische Bewegung: „Jetzt! – ein subrealistisches Manifest“, 1979)
Der Kapitalismus macht immer mehr LohnarbeiterInnen überflüssig, d.h. ihre Arbeitskraft wird nicht mehr zur Akkumulation des Kapitals benötigt. Selbst bürgerliche Ökonomen sprechen mittlerweile von der „strukturellen Arbeitslosigkeit“. War es früher so, dass nach einer kapitalistischen Krise die kurzzeitig freigesetzte Arbeitskraft wieder in den Produktionsprozess reintegriert wurde, so hat sich im Zuge der anhaltenden Krise des Kapitals seit 1973 das Bild gewandelt. Die Zahl der Lohnabhängigen, die keinen Käufer für ihre Arbeitskraft mehr finden, ist weiter im Steigen begriffen.
Der bürgerliche Staat reagiert auf diese Entwicklung mit rigidem Krisenmanagement, unter anderem in dem er die Reproduktionskosten der industriellen Reservearmee herabdrückt. Diese Herabsetzung der Reproduktionskosten, sprich: die Kürzung sozialer Leistungen wie Arbeitslosenhilfe, ist eines der Ziele von Hartz-Papier und Agenda 2010.
So sollen beispielsweise Arbeitslosen- und Sozialhilfe „zusammengelegt“ werden, was unterm Strich eine Senkung des Arbeitslosengeldes auf die Höhe des Sozialhilfesatzes bedeutet. Auch sollen die Bezugszeiträume verkürzt werden, es wird in Zukunft schwerer werden, Arbeitslosenhilfe zu bekommen.
Der Kündigungsschutz für kleinere Unternehmen soll aufgehoben werden, soll heißen: wer demnächst noch so „dreist“ ist, sich beim Chef über die Arbeitsbedingungen zu beschweren oder auf seinem Jahresurlaub zu bestehen, fliegt schneller. „Wenn es Ihnen nicht passt, können sie ja gehen!“ So sieht die viel gepriesene „Flexibilisierung und Deregulierung der Arbeitsverhältnisse“ in der Praxis aus – weniger Lohn, mehr Niedriglohnjobs, immer unsicherer werdende Arbeitsverhältnisse, mehr Druck auf Arbeitslose und SozialhilfeempfängerInnen.
Um diese und andere Schweinereien durchzuboxen, forciert die politische Klasse den ideologischen „Sozialschmarotzer“-Diskurs. Arbeitslose werden für ihre Zwangslage selbst verantwortlich gemacht, als „faul“ und „arbeitsunwillig“ stigmatisiert. In Verbindung mit einer weit verbreiteten Überhöhung von Arbeit als tugendstiftendem Selbstzweck wird so ein gesellschaftliches Klima geschaffen, in dem gewaltsame Übergriffe auf Obdachlose zur Normalität werden.
„Die kapitalistische Moral, eine jämmerliche Kopie der christlichen Moral, belegt das Fleisch des Arbeiters mit einem Bannfluch: Ihr Ideal besteht darin, die Bedürfnisse des Produzenten auf das Minimum zu reduzieren, seine Genüsse und seine Leidenschaften zu ersticken und ihn zur Rolle einer Maschine zu verurteilen, aus der nun ohne Rast und ohne Dank Arbeit nach Belieben herausschindet.“
(aus: Paul Lafargue: „Das Recht auf Faulheit“, 1883)
Wir wollen keine schönere Lohnsklaverei sondern garkeine.
Demonstration
Sonntag, 10. 8. 2003
14 Uhr S‑Bahnhof Blankenfelde (S2, RE5, RB24)
Treffpunkt für BerlinerInnen:
13 Uhr Regionalbahnsteig Bahnhof Alexanderplatz