Die Eltern von Marinus blicken von ihrem Fenster aus auf den Friedhof von Gerswalde. Dort können sie zwischen Blumen, Kränzen und bunten Plüschmäusen das kleine Holzkreuz sehen, das neben wuchtigen Granit-Grabsteinen
schmächtig wirkt. Hier liegt Marinus begraben, geboren am 4. September 1985, gestorben am 12.Juli 2002. Im Grab befindet sich nur die Asche vom Torso des Jungen. Sein
zertrümmerter Schädel liegt bei der Justiz. Er wird im Prozess gebraucht. Demnächst wird Anklage erhoben. Schon jetzt sagt der Leitende Oberstaatsanwalt Gerd Schnittcher aus Neuruppin, diese Tat stelle in der “Nichtigkeit
des Anlasses und der Brutalität des Vorgehens eine neue Dimension” dar.
Morgens führt der erste Weg von Marinus Mutter hinüber zum Grab ihres Sohnes. Gerne würde sie einen Grabstein setzen lassen. Aber das Geld dafür fehlt. Arbeitslos sind der Vater und die Mutter von Marinus, arbeitslos seine
sechs älteren Schwestern. Eine von ihnen hat selbst eine Tochter, von einem Mann, der auch keine Arbeit hat und nicht für sein Kind zahlt. So ist das in der Uckermark, wo die Arbeitslosenquote 30 Prozent erreicht. Die Bestattung
wenigstens wurde vom Sozialamt übernommen. Ein Grabstein nicht.
Das Holzkreuz ist so unscheinbar wie Marinus war, der sich mit der Sprache schwer tat und auf die Förderschule ging. “Der ist immer reingeschwebt wie eine Feder, rausgeschwebt, man hats gar nicht gemerkt”, sagt der
Kneipenwirt in Gerswalde, wo die Jugendlichen ihre Abende bei einem einzigen Bier oder einer einzigen Cola verbringen. Über Marinus reden sie jetzt nicht mehr so
oft.
Das war vor ein paar Wochen noch anders. Da war Marinus gefunden
worden,
versenkt in einer Jauchegrube im benachbarten Potzlow, zugerichtet auf
eine
Art
und Weise, die der ermittelnde Staatsanwalt “viehisch” nennt. Ein Täter
hatte
mit der Bluttat geprahlt und andere Jugendliche für Geld zu der Leiche
geführt.
Ein Junge hatte daraufhin den Mut, zur Polizei zu gehen. Jetzt sitzen
drei
junge
Männer in Haft, die den schüchternen Marinus gefoltert und getötet
haben
sollen.
Sie sollen ihn “Jude” genannt haben, sie sollen sich über sein blond
gefärbtes
Haar aufgeregt haben, mit dem er versuche, “arisch” auszusehen. Sie
sollen
ihn
umgebracht haben, weil er weite Hiphopper-Hosen trug. Bevor sie
loszogen,
hatten
die drei mutmaßlichen Täter sich den Videofilm “American History X”
angeschaut,
in dem ein Skinhead drei Schwarze brutal tötet.
Es geht im Fall Potzlow aber nicht nur um außer Rand und Band geratene
Jugendliche. Die Staatsanwaltschaft ermittelt auch gegen Erwachsene,
zwei
Männer
und eine Frau zwischen 37 und 46 Jahren. Sie sollen den Beginn des
bestialischen
Verbrechens mitbekommen haben, ohne einzugreifen. In ihrer Wohnung
begann
das
Martyrium von Marinus, der beschimpft und geschlagen wurde. Die Täter
zwangen
den Jungen zu den verfallenden Ställen am Rande Potzlows, wo zu
DDR-Zeiten
noch
Vieh stand. Dort folterten sie ihn zu Tode und versenkten die Leiche in
einer
Jauchegrube. Monatelang wurde er nicht gefunden. Die erwachsenen
Tatzeugen
schwiegen.
Jetzt sitzen zwei 17-Jährige, Sebastian F. und Marcel S., in Haft. Und
der
Bruder von Marcel, Marco S., 23 Jahre alt, der in der Gegend als
unbelehrbarer
Neonazi gilt. Eine Zugehörigkeit zur rechtsextremen Szene, sagt
Ermittler
Schnittcher, sei “bei allen drei Beschuldigten sehr deutlich gegeben”.
Im
August, die Leiche von Marinus war noch nicht gefunden, trat der kahl
geschorene
Marco S. in der Uckermark-Kreisstadt Prenzlau gemeinsam mit drei
anderen
Jugendlichen auf einen Mann aus Sierra Leone ein. Der Prozess folgte
schnell,
Marco S. wurde im Oktober zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Seine
Freundin
Nicole B., die ebenfalls dabei war und eine zehnmonatige Jugendstrafe
bekam,
taucht im Zusammenhang mit dem Mordfall Potzlow wieder auf. Einem
Jungen,
der
als Zeuge gehört wird, drohte sie auf dem Schulhof, ihm könne “auch so
etwas
passieren”. Jetzt sitzt sie in Haft.
Voller Schrecken blickt die Öffentlichkeit in die Uckermark, diese
abgehängte
Gegend, in der bereits Mitte der 90er Jahre eine brutale Skinhead-Szene
andere
Jugendliche terrorisierte. Im Oktober 1996 schlug eine Gruppe dieser
Neonazis in
Sternhagen, einem Ort nahe Potzlow, mit einer Baseballkeule auf einen
Streetworker ein und trat ihn, als er am Boden lag, mit
Springerstiefeln.
Der
Mann erlitt einen “Schädelbruch mit Eindringen von Knochensplittern in
die
Augenhöhle”, wie es im Urteil hieß. Die brandenburgische Politik wurde
endlich
wach, und am runden Tisch beschloss man, die Jugendlichen nicht mehr
sich
selbst
zu überlassen. Die Gemeinde stellte das ehemalige Gutshaus zur
Verfügung,
der
Kinder- und Jugendzentrum Strehlow e.V. nahm seine Arbeit auf. Petra
Freiberg
war dabei.
Sie ist eine schmale Frau, die Wärme ausstrahlt und Energie. Das fällt
auf
in
einer Gegend, wo Lethargie an der Tagesordnung ist. Jeden Abend hat ihr
Jugendzentrum bis 22 Uhr geöffnet, zurzeit spielen die Besucher an
ihrem
Computer gerne Börse. Nebenan in der Bar stehen Fußballpokale, und
Petra
Freiberg sitzt in den pastellfarben gestrichenen Kellerräumen, um zu
reden
und
zuzuhören. “Den Eltern ist das bockwurscht, wo ihre Kinder sind”,
empört sie
sich. Auch zwölf Jahre nach der Wende hätten viele Erwachsene noch
nicht
begriffen, dass sie selbst Verantwortung übernehmen müssten, für sich
und
ihre
Kinder.