(LR, 9.9.) Martina Krümmling ist noch immer fassungslos. Dabei haben sich die jungen
Neonazis, die die Wahlkundgebung von Ministerpräsident Matthias Platzeck
(SPD) gezielt gestört haben, längst aus dem Staub gemacht. “Das gab es in
Neuruppin noch nie. Ich zittere immer noch”, sagt die junge Frau, ehe sie
weiter eindringlich auf Plat-zeck einredet: Er möge sich bitte dafür
einsetzen, dass der Kurde Celal Kutlu mit seiner Frau und den vier Kindern
nicht in die Türkei abgeschoben wird, wo er als politisch Verfolgter einst
inhaftiert gewesen sei. Er lebe seit neun Jahren in Neuruppin, habe Arbeit,
spreche deutsch. “2000 Neuruppiner haben unterschrieben. Geben Sie doch den
Stempel”, bittet der 47-jährige Kutlu, der daneben steht, Platzeck.
Doch der Regierungschef und Landrat Christian Gilde (SPD) können keine
Hoffnung machen. Gilde verweist auf die Gesetze, das ablehnende Votum der
Härtefallkommission, die schwierige Asylfälle prüft. “Wir müssen alle gleich
behandeln”, sagt Platzeck. Martina Krümmling schüttelt enttäuscht den Kopf:
“Bald ist Neuruppin ausländerfrei. Das ist es, was die Neonazis wollen.”
Zuvor haben rund 300 Zuhörer eine beklemmende Wahlkundgebung in der
Fontanestadt erlebt: Hier vielleicht 20 junge Menschen, die mit Plakaten für
die kurdische Familie demonstrierten. Da der kleine Trupp Neonazis, der
zunächst gar nicht auffällt: Denn die acht oder zehn jungen Männer, fast
alle in schwarzen T‑Shirts, haben sich unauffällig unter die Menge gemischt.
Erst als Platzeck die Bühne betritt, mit seiner Rede beginnt, schreien sie
abwechselnd: “Hau′ ab!”, “Schaff Arbeit!”. Der Wortführer steht in
herausfordernder Positur direkt an der Bühne und ruft immer wieder
hasserfüllt: “Scheiß BRD-System.”
Irgend jemand dreht die Lautstärkeregler höher. Platzeck lässt sich nicht
beirren, spricht noch leidenschaftlicher. Als er für die Angleichung des
Arbeitslosengeldes II wirbt, die von der Union geplante Anhebung der
Mehrwertsteuer und die Abschaffung der Pendlerpauschale attackiert,
klatschen sogar Anti-Hartz-IV-Demonstranten. Schwedens Botschafter Carl
Tham, der einmal den Wahlkampf in der ostdeutschen Provinz erleben will und
in der Menge steht, zeigt sich beeindruckt: “Ein sehr kraftvoller,
standhafter Politiker.” Platzeck gehöre zur kommenden Führungsgeneration der
SPD.
Es ist der Ostprignitz-Ruppiner Landrat Christian Gilde, der den Wortführer
der Neonazis nach der Kundgebung entlarvt: Er verwickelt ihn in einen
Disput — mit bohrenden Fragen nach seinen politischen Zielen. “Wir brauchen
Raum. Ich bin Bauer”, tönt der. Heißt das, Deutsche sollen nur deutsche
Lebensmittel essen? “Natürlich.” In Flugblättern, die die Neonazis auf dem
Platz verteilen, wird zum “Wahlboykott” aufgerufen. Verantwortlich: Mario
Schulz, der frühere NPD-Landeschef. Er trat aus, weil ihm die NPD nicht
rechts, nicht ausländerfeindlich genug war: Sie hatte einen Bosnier
kandidieren lassen. Schulz, inzwischen Anführer der “Bewegung Neue Ordnung”,
ist auch auf dem Platz. Seine Leute fotografieren Ordner und Journalisten.
“Schlimm, dass die hier so ungehindert provozieren dürfen”, klagt ein
Neuruppiner. Als die Neonazis schließlich mit triumphierenden Mienen
abziehen, stört die Polizisten nicht einmal, dass einer ihrer beiden Pkw
vorn kein Nummernschild trägt. Erst als ein Journalist sie darauf aufmerksam
macht, werfen sie einen kurzen Blick in die Papiere. Dann dürfen Schulz und
Konsorten wegfahren. Platzeck hört sich derweil an einem langen Biertisch
vor der Bühne die großen und kleinen Sorgen der Neuruppiner an. Auf der
Rückfahrt im Auto sinniert Platzeck: “Die Gespräche nach der Rede sind das
wichtigste.”