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Potzlow — Im Niemandsland der Wahrheit

Pot­zlow und der grausame Mord an einem Jugendlichen: “Der wird nicht mehr. Den müssen wir jet­zt umbringen.”

 

Im Nie­mand­s­land der Wahrheit

 

Auch ein Jahr nach dem Geschehen reagieren viele in dem
uck­er­märkischen Dorf mit Hil­flosigkeit und Ver­weigerung auf die
Hin­ter­gründe der Tat

 

(Süd­deutsche Zeitung, Annette Ramels­berg­er, 11.7.03) Pot­zlow, im Juli — Die Mohn­felder blühen so schön in Pot­zlow. Der
Oberuck­ersee liegt wie hingegossen zwis­chen den san­ften Hügeln der
Uck­er­mark, vor dem alten Her­ren­haus rauschen die Lin­den und von
gegenüber, aus den Fen­stern eines niedri­gen Feld­stein­haus­es, leuchten
die blüten­weißen Spitzen­gar­di­nen. Keine 100 Meter sind es vom
Her­ren­haus zu diesen Gar­di­nen. Kein Zaun, keine Mauer, nur 100 Meter
Wiese. Freier Blick. 

 

Hätte sie etwas spüren müssen? Hätte sie etwas ver­hin­dern können?
Hätte sie ahnen müssen, dass hin­ter diesen Gar­di­nen etwas passiert?
Unter den Lin­den, vor dem Her­ren­haus, das jet­zt ein Jugend­club ist,
sitzt Petra Freiberg und zer­martert sich den Kopf. Denn hin­ter diesen
Gar­di­nen, an der Rück­seite des Feld­stein­haus­es, liegt eine Veranda.
Und auf dieser Veran­da begann das Mar­tyri­um des Schülers Marinus
Schöberl. Ein Mar­tyri­um, das zu einem grausamen Mord führte, einem
Mord, der die Repub­lik auf­schreck­te, das Dorf, in dem er geschah,
aber nicht. 

 

Ein stiller, schlak­siger Junge

 

Petra Freiberg hat das Opfer gekan­nt: ein stiller, schlak­siger Junge,
der weite Hosen trug und sich die Haare blond färbte, so wie viele in
seinem Alter. Mar­i­nus war ein­er, der Unsinn machte, so wie sie es
alle machen, mit 16, 17 Jahren. Ein­er, der mit den Fre­un­den auf den
Rädern durchs Dorf flitzte und “Kräuter” trank, so nen­nen sie hier in
der Uck­er­mark die kleinen Fläschchen Kräuter­schnaps. Und der leicht
ins Stot­tern geri­et, wenn er aufgeregt war. Petra Freiberg kannte
auch die Mörder, zumin­d­est ein en von ihnen gut. Wochen­lang hat sich
der 17 Jahre alte Mar­cel im let­zten Som­mer bei ihr im Jugendclub
aufge­hal­ten, hat mit den anderen Späße gemacht, mit ihnen Hiphop
gehört. Und hat nichts gesagt. 

 

Es war ein heißer Tag, dieser 12. Juli 2002. Die Jugendbetreuerin
Petra Freiberg hat­te mit ein paar Jugendlichen eine Nachtwanderung
gemacht. Zur gle­ichen Zeit zogen andere junge Leute durchs Dorf und
lan­de­ten nach Mit­ter­nacht an jen­em Feld­stein­haus jen­seits der Wiese,
wo Moni­ka Spier­ing wohnt. Dort klin­gel­ten sie die Leute aus dem Bett,
stell­ten einen Kas­ten Bier hin und Schnaps. Mar­i­nus war dabei, Marcel
und sein älter­er Brud­er Mar­co, 23. Und Sebas­t­ian, ein Fre­und Marcels.
Dann set­zten sie sich auf die Veran­da. Einen Fernse­her gab es nicht.

 

Aber wie um das fehlende Fernseh­pro­gramm zu erset­zen, starteten sie
nun selb­st ein Pro­gramm: Es begann damit, ihren Kumpel Mar­i­nus zu
schla­gen. Dann flößten sie ihm Schnaps ein, bis er sich erbrach. Dann
schleppten sie ihn hin­aus auf die Ter­rasse, wo er hil­f­los liegen
blieb. Dann urinierten sie auf den Jun­gen, dann schlu­gen sie ihn, bis
er zugab, “ein Jude” zu sein, obwohl er doch gar kein­er war. Und dann
luden sie den zer­schla­ge­nen, stink­enden, taumel­nden Jun­gen auf ein
Rad und fuhren ihn zu den ver­lasse­nen Schweineställen der ehemaligen
Land­wirtschaftlichen Pro­duk­tion­sgenossen­schaft (LPG) am Rande des
Dor­fes. Und dort bracht­en sie ihr Abend­pro­gramm dann zu Ende. 

 

Was in den Schweineställen geschah, wird seit zwei Monat­en vor dem
Landgericht Neu­rup­pin ver­han­delt. Gle­ichzeit­ig eröffnet dieser
Prozess einen Ein­blick in die Wirk­lichkeit eines Dor­fes, so banal und
unge­heuer­lich, dass es scheint, als blät­tere hier die Tünche der
Zivil­i­sa­tion. Dieser Ein­druck wird stärk­er, je mehr Zeu­gen auftreten.
Zeu­gen wie Moni­ka Spier­ing, hin­ter deren Gar­di­nen, auf deren Terrasse
alles begann. 42 Jahre ist Moni­ka Spier­ing alt, mager, mit dünnen,
aschblonden Haaren, arbeit­s­los. Sie, ihr Lebens­ge­fährte und ihr
Brud­er wohnen in dem Feld­stein­haus mit den Spitzen­gar­di­nen, meist
ohne Strom. Der war auch an jen­em 12. Juli abgedreht. 

 

Innere Angele­gen­heit­en

 

Der Polizei hat sie fast aufgekratzt geschildert, wo Marinus
geschla­gen wurde, wo er zusam­menge­brochen ist, wo er später lag. Über
diese Aus­sage gibt es einen Video-Mitschnitt. Jet­zt will sie nichts
mehr sagen, denn die Staat­san­waltschaft hat ihr einen Strafbefehl
geschickt — acht Monate Haft auf Bewährung, wegen unterlassener
Hil­feleis­tung. Denn Spier­ing hat nichts getan, um dem Jun­gen zu
helfen. Außer man wertet ihren Satz als Hil­fe: “Gib doch zu, dass du
ein Jude bist, dann hören die auf.” Selb­stver­ständlich hat Frau
Spier­ing den Straf­be­fehl abgelehnt. “Ich habe mir nichts
vorzuw­er­fen”, sagt sie und schleud­ert der Rich­terin hin: “Zum 12.
Juli sage ich gar nichts — alles Weit­ere über meine Anwältin.” 

 

Rich­terin Ria Bech­er fragt trotz­dem, zum Beispiel nach dem
Alko­holkon­sum vor der Tat. Klar habe sie mit­getrunk­en, schnappt
Spier­ing. “Ist doch nicht ver­boten!” Einen Kas­ten Bier habe es
gegeben. Und? Was ist das schon? “An einem Kas­ten ist ja nicht viel
dran.” Frau Spier­ing hat diesen empörten Unter­ton in der Stimme, den
viele im Ort haben, wenn man sie auf den Mord an Mar­i­nus Schöberl
anspricht. Entrüs­tung darüber, dass sich hier Leute in ihre inneren
Angele­gen­heit­en ein­mis­chen. Es ist ein Ton, den man wieder erkennt -
bei ganz anderen Men­schen als Frau Spiering. 

 

Ein nor­males Dorf, nor­male Men­schen. “Eine Menge guter Sachen” gebe
es hier, sagt Orts­bürg­er­meis­ter Johannes Weber: die Feuer­wehr, den
Angel- und den Brief­tauben­vere­in, die Fußball­mannschaft. Woanders
ziehen die Leute weg, hier ziehen sie hin. Fast 600 Ein­wohn­er hat
Pot­zlow. Mehr als vor der Wende. Ist das nichts? 

 

Es ist vieles ganz nor­mal in Pot­zlow. Und manch­es nicht. Dass seit
Jahren ein Juden­stern an die Mauer am Fried­hof gesprüht ist, darunter
ein Neon­azi-Sym­bol. Keinen störte es. Dass ein junger Mann von der
Feuer­wehr Blanken­burg im Ort vor­beis­chaut, in kurzen Hosen, auf der
Wade hat er SS-Runen tätowiert. Kein­er sagt was. Dass Jugendliche
sich vor den Augen ihrer Eltern mit Bier zuschüt­ten. Kein­er tut was.
Und wenn jemand etwas tut, empfind­en das die Eltern als Angriff, als
Ein­mis­chung in ihre Angelegenheiten. 

 

Es ist hier vieles nor­mal, was ander­swo als Prob­lem betra­chtet würde.
Mar­cel, der damals 17 Jahre alte Junge, der nun vor Gericht als
Haup­tangeklagter gilt, war häu­fig betrunk­en. So oft, dass es gar
nicht mehr auffiel. “Ganz nor­mal” sei das gewe­sen, sagen die jungen
Zeu­gen. “Ganz nor­mal” habe Mar­cel auch erzählt, dass er einen
umge­bracht habe. “Ganz nor­mal” ist offen­bar alles, was den jungen
Leuten wider­fährt. Eine Zeu­g­in, 22 Jahre alt, Beruf: “arbeit­s­los”,
erzählt, wie sie mit Schwest­er und Fre­un­den vor dem Videogerät saß
und sich immer wieder den Film Amer­i­can His­to­ry X ange­se­hen habe -
einen Film, in dem ein Recht­sradikaler einen Schwarzen zwingt, in
eine Bor­d­steinkante zu beißen und dann auf seinen Kopf springt, dass
der Schädel knackt. “Wir haben alle gelacht”, berichtet die Zeugin.
“Jet­zt kommt er, jet­zt kommt er”, hät­ten sie sich auf die Szene mit
dem Bor­d­stein­kick heiß gemacht. Sie haben gelacht. “Haben Sie das
lustig gefun­den?”, fragt der psy­chol­o­gis­che Sachver­ständi­ge Alexander
Böh­le. Er bekommt keine Antwort. 

 

Hört man den Zeu­gen im Gericht von Neu­rup­pin zu, erscheint es, als
wenn viele dieser Men­schen noch nicht ein­mal wüssten, was gut ist und
was böse. Dass sie von Regeln allen­falls mal gehört haben, aber sie
für nebensächl
ich hal­ten. Für nicht zutr­e­f­fend auf ihr eigenes Leben.
Und dass es offen­bar nie­man­den gibt, der ihnen Werte ver­mit­telt. In
jen­er Nacht an den Schweineställen gab es keine Regeln, keine Werte
und keine Würde. Die drei jun­gen Män­ner schleppten ihr Opfer in den
Schweinestall. Jet­zt, wo er zugegeben hat­te, dass er “Jude” sei,
hat­ten sie ihn als Unter­men­schen markiert, der kein Recht auf
men­schliche Behand­lung mehr hat­te. Sie stießen ihn in eine mit Jauche
gefüllte Grube — “um zu sehen, ob er unterge­ht”, sagt die
Staat­san­wältin. Dann drück­ten sie ihn in die Knie und ließen ihn in
einen Beton­trog beißen. Spätestens in diesem Moment muss dem Opfer
klar gewe­sen sein, was ihm bevor­stand: Denn auch Mar­i­nus hat­te den
Film gese­hen. So wie fast alle. 

 

Mar­cel springt mit seinen Springer­stiefeln auf Marinus‘Kopf. Der
sinkt zur Seite, das Gesicht ist völ­lig entstellt. Dann, so die
Staat­san­wältin, habe Marcels älter­er Brud­er Mar­co gesagt: “Der wird
nicht mehr. Den kön­nen wir keinem Arzt mehr vorstellen. Den müssen
wir jet­zt umbrin­gen.” Sie suchen einen Stein, Mar­cel zer­malmt den
Kopf des Jun­gen mit zwei hefti­gen Hieben. Dann, so berichtete Marcel
in der polizeilichen Vernehmung, habe Mar­co dem Toten den Puls
gefühlt: “Er meinte dann, dass er hin wäre.” So ste­ht es im
Pro­tokoll. Zu dritt ver­schar­ren sie ihr Opfer in der Jauchegrube. 

 

In den Wochen danach geschehen selt­same Dinge. Der Ruck­sack von
Mar­i­nus wird gefled­dert, aber keinen kümmert‘s. Mar­cel berichtet
einem Schulka­m­er­aden, er habe “einen Assi”, einen Asozialen,
umge­bracht. In der Kneipe saßen sie da zusam­men, “Mar­cel war lustig
drauf”, berichtet der Schüler. “Ganz nor­mal hat er das erzählt, wie
man unter Kumpels erzählt.” Die Reak­tion? Offen­bar keine. Auch zwei
Elek­trik­er-Lehrlin­gen auf sein­er Berufs­förder­schule erzählt Marcel,
dass er jeman­den umge­bracht habe. Gegrinst habe er dabei, sagt einer
der bei­den. Schon mor­gens um acht Uhr habe er damit herumgeprahlt,
sagt der andere. Reak­tio­nen? Offen­bar keine. Im Herb­st führt Marcel
die Fre­undin seines Brud­ers und ein paar Kumpels zur Jauchegrube. Und
die ist auch noch stolz auf die Tat. 

 

Nicole, 17 Jahre alt, Kau­gum­mi im Mund, Hände in den Schlabberhosen,
schlen­dert ins Gericht, direkt aus der Haft. Sie ist das, was man
eine Skin­braut nen­nt, eine überzeugte Recht­sradikale. Sie hat einen
der Jungs aus dem Dorf bedro­ht, es werde ihm genau­so erge­hen wie
Mar­i­nus, wenn er der Polizei etwas sage. Bei der Polizei machte sie
anfangs sog­ar den Ver­such, sich als Mit­tä­terin auszugeben. Und
erzählte dort, was sie von Mar­cel erfahren hat­te. “Ein richtig guter
Kick” sei die Tat gewe­sen, vor allem wie das Opfer “dann so dalag”.
Und wie Mar­cel auf der Stelle herumge­tram­pelt sei, an der die Leiche
lag. “Das kann ja nur der Scheiß-Schädel sein”, habe er gerufen,
sagte Nicole der Polizei. 

 

Der Gang zur Grube

 

Eine ganze Rei­he von Men­schen haben gewusst, dass ein Mord geschehen
war. Oder es zumin­d­est geah­nt. Aber kein­er hat reagiert. Obwohl die
Eltern von Mar­i­nus über­all im Dorf herum­fragten, wo ihr Sohn
geblieben sei. Auch bei Frau Spier­ing. Auch bei den Tätern.
Ver­mut­lich wäre der Mord nie bekan­nt gewor­den, wenn Mar­cel im Herbst
nicht mit ein paar Leuten gewet­tet hätte: Er wisse, wo Mar­i­nus liege.
Erst da sind sie mit ihm zur Grube und haben den Leichnam
aus­ge­graben. Und erst da erfuhr Petra Freiberg, dass der Junge, der
Mar­i­nus ermordet hat­te, wochen­lang bei ihr im Haus verkehrte. 

 

Vielle­icht ist es die Nähe zu Opfer und Tätern, die Frau Freiberg
empfind­lich­er macht als die anderen. Vielle­icht will sie deswe­gen so
behar­rlich wis­sen, warum so etwas passieren kon­nte, ob es wieder
passieren kann, was sie dage­gen tun kann. Was das Dorf dage­gen tun
kann. Und vielle­icht will sie auch deswe­gen nichts mehr übersehen. 

 

Deswe­gen ist ihr die Sache mit der Bude da hin­term Jugend­club so
wichtig. Eine Hütte, weiß getüncht, darin ste­hen ein paar alte,
vergam­melte Sofas. Davor ein Feuer­platz. Drumherum liegen
Glass­plit­ter, leere Bier­flaschen. Hier tre­f­fen sie sich jet­zt , nicht
die Jugendlichen von Pot­zlow, aber doch einige. Weil man hier trinken
kann, viel mehr als im Jugend­club bei Petra Freiberg. Weil man hier
in Ruhe gelassen wird. 

 

Der Bürg­er­meis­ter ver­s­tummt. “Ich sehe da kein eigen­ständi­ges Problem
der Gemeinde. Das bet­rifft doch die Erziehungs­berechtigten”, sagt er
knapp und dann am lieb­sten gar nichts mehr. Die Kinder des Dorfes
saufen sich um den Ver­stand, doch es ist kein Prob­lem der Gemeinde.
Deswe­gen erfährt man von Bürg­er­meis­ter Weber auch kein Wort darüber,
dass es Zoff gab auf der Gemein­der­atssitzung. Dass einige Eltern es
sich sog­ar ver­beten haben, dass das Alko­hol­prob­lem ihrer Kinder von
anderen ange­sprochen wird. Seit­dem wird auch über den Brief
geschwiegen, den die Sozialar­beit­er des Jugend­haus­es den Eltern
geschrieben haben und in dem sie ein Tre­f­fen anregten. Den
Eltern­abend wird es nicht geben. Jet­zt nicht. Ver­mut­lich nie. 

 

Petra Freiberg ist laut gewor­den bei der Sitzung. Sie fühlt sich wie
ein Feigen­blatt, das dafür her­hal­ten soll, die Blöße des Dor­fes zu
verdeck­en. 1997 ist sie geholt wor­den, damals hat­ten hier
Recht­sradikale einen Sozialar­beit­er ermordet, Jugendliche trauten
sich nicht mehr durch das Dorf aus Angst, von Recht­en angemacht zu
wer­den. Freiberg hat die Szene befriedet, das Dorf wurde ruhig, das
Symp­tom Recht­sradikalis­mus schwäch­er. Doch das eigentliche Problem
blieb: die Entzivil­isierung von Men­schen am Rande der Gesellschaft. 

 

Aus­gerech­net der Vertei­di­ger des Haup­tangeklagten Mar­cel spricht den
Punkt an. Volk­mar Schöneb­urg, aufgewach­sen in der DDR,
PDS-Funk­tionär, ist unverdächtig, die Sit­u­a­tion im Osten zu schwarz
zu malen. Er sagt, in dem Dorf fehle ein­fach der “zivil­isatorische
Stan­dard”. Man küm­mere sich nicht umeinan­der. Es habe keinen
belastet, den Ruck­sack, das Handy und das Fahrrad von Mar­i­nus zu
find­en. Kein­er habe etwas getan. Schöneb­urg spricht aus, was sich
schon während des ganzen Prozess­es auf­drängt: “Die Werte, die wir für
selb­stver­ständlich hal­ten, sind dort gar nicht vorhanden.” 

 

Früher hat­te die LPG die soziale Kon­trolle und die soziale
Ver­ant­wor­tung für den Großteil der Leute im Dorf. Was die LPG nicht
schaffte, machte die Partei. Dann zer­brach alles, was die Menschen
als Autorität anerkan­nten: der Betrieb, die Partei, der Staat. Und
noch immer, 13 Jahre danach, fühlen sich offen­bar manche so, als wenn
sie in ein Nie­mand­s­land geschleud­ert wor­den wären, wo sich kein­er um
sie küm­mert und sie sich ihre Regeln deshalb sel­ber machen. Oder es
eben bleiben lassen. 

 

“Ich hätte aus euren Kindern auch Nazis machen kön­nen, und ihr hättet
es nicht gemerkt “, hat Freiberg den Eltern in Potzlow
ent­ge­genge­hal­ten. Die bekom­men so erstaunlich wenig mit: Ein Vater
ken­nt die Adresse der Fre­undin nicht, wo sein min­der­jähriger Sohn
seit Monat­en wohnt. Ein ander­er weiß nicht, dass der Sohn mit­ten in
der Nacht sturz­be­trunk­en im Dorf herum­läuft. Die Mut­ter eines der
jun­gen Trinker hielt der Sozialar­bei­t­erin vor: “Du hast es nicht
geschafft, mein Kind zu erziehen.” Die Eltern der Täter Mar­cel und
Mar­co kri­tisieren nun, der Jugend­club habe sich zu wenig um die
Jugendlichen gekümmert. 

 

“Die Leute hal­ten sich eine Sozialar­bei­t­erin wie einen Dienstleister
— zuständig für die Erziehung und Ruhig­stel­lung ihrer Jugendlichen”,
sagt Jür­gen Lorenz vom Mobilen Beratung­steam im Regierungsprogramm
Tol­er­antes Bran­den­burg. Lorenz ist seit Monat­en immer wieder im Dorf,
doch er nimmt keine wirk­lichen Aktiv­itäten wahr, um den Mord an
Mar­i­nus zu ver­ar­beit­en. “Das Dorf hat keinen Bezug
zu seinen
Jugendlichen”, sagt er. Und offen­bar auch keinen zueinan­der. Es gibt
kaum Tre­f­fen, und wenn, dann zum Trinken, die Mit­telschicht macht ihr
eigenes Ding, dann wer­den die Jalousien run­terge­lassen. Schweigen. 

 

Immer diese Fragen

 

Es ist so unheim­lich, weil einen das Gefühl beschle­ichen kön­nte, dass
Petra Freiberg und ihre Kol­le­gen so ziem­lich die Einzi­gen sind, die
sich fra­gen, ob etwas falsch gelaufen ist. Die anderen erscheinen
lediglich gen­ervt, dass sie immer noch gefragt wer­den. Dass immer
noch Men­schen im Dorf auf­tauchen, die nicht den See genießen wollen,
son­dern fra­gen, wie so etwas geschehen kon­nte. “Diese permanenten
Fra­gen: Was ist passiert? Was haben Sie gemacht?”, sagt Johannes
Weber, der Orts­bürg­er­meis­ter, und man spürt bei jedem Wort, wie sehr
er sich zusam­men­reißen muss, das Gespräch nicht abzubrechen. Er ist
nie bei der Ver­hand­lung in Neu­rup­pin gewe­sen, auch nicht auf der
Bürg­erver­samm­lung, als ein Polizeispsy­chologe erk­lärt hat, wie
Jugendge­walt entste­ht. Der Mann hat aber auch anderes zu tun. Führt
einen Maler­be­trieb, muss sehen, dass Aufträge reinkom­men. “Sachen
müssen auch mal zu Ende gehen”, sagt Weber. 

 

Er ist auch nie bei den Eltern von Mar­i­nus gewe­sen. Die wohnen im
Dorf nebe­nan. Der Pfar­rer war bei ihnen, auch Petra Freiberg, sonst
nie­mand. “Absolutes Desin­ter­esse” erfährt die Fam­i­lie, sagt ihr
Anwalt. Der Grab­stein für Mar­i­nus wurde von Berlin­ern gespendet. 

 

Hin­ten im Gerichtssaal sitzt Peter Feike. Er stammt nicht direkt aus
Pot­zlow, aber er arbeit­et dort, als Koor­di­na­tor der Jugen­dar­beit. Er
ist ein­er der ganz weni­gen, die den Prozess gegen die Mörder von
Mar­i­nus regelmäßig besuchen. Feike ist auch Bürg­er­meis­ter, allerdings
der Großge­meinde Oberuck­ersee, zu der Pot­zlow gehört.Und seit er das
Alko­hol­prob­lem im Gemein­der­at ange­sprochen hat, gibt es Zoff. Wie
könne er so etwas nur in die Öffentlichkeit tragen? 

 

Feike hat am Anfang auch abgewiegelt, was in Pot­zlow geschah. Hat
gesagt, das komme in der Großs­tadt doch jeden Tag vor, damals im
Novem­ber, als die Leiche gefun­den wurde. Seit er den Prozess
ver­fol­gt, hat er dazugel­ernt. Er weiß, dass die Tat von Potzlow
außergewöhn­lich war, erschreck­end, unheim­lich. Und will wie Freiberg
jet­zt nicht mehr wegschauen. “Man kann das doch nicht als Lappalie
run­ter­ma­chen, wenn sich die Jugendlichen ständig betrinken. Gerade
nach dem, was geschehen ist, muss man doch sen­si­bler reagieren”, sagt
Feike. “Son­st kommt am Ende der Ver­dacht auf, es ist einem alles
egal.” 

 

Ver­mut­lich ist es aber ein­fach so.

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