(Junge Welt, Christoph Schulze) Die Forderung, die am Donnerstag im Seelower Landratsamt (Land Brandenburg) gestellt wurde, war denkbar simpel. Rund 40 Flüchtlinge, die im nahe gelegenen Kunersdorf in einem Heim zwangsuntergebracht sind, riefen »Bargeld für alle« durch die Gänge des aufwendigen Behördenbaus. Zeitweise wurde der Arbeitsbetrieb durch den lautstarken Protest lahmgelegt. Der Grund: Entgegen der Praxis in anderen Landkreisen werden in Märkisch-Oderland die ohnehin dürftigen monatlichen 180 Euro Unterstützung für Flüchtlinge zum größten Teil nicht bar ausgezahlt, sondern in Form von aufladbaren Chipkarten. Am Vortag hatten die 150 Bewohner des Heimes geschlossen die Annahme dieser Chipkarten verweigert: »So kann es nicht weitergehen. Lieber haben wir gar kein Geld und hungern.«
Flüchtlingsaktivistin Florence Sissako beschrieb die Situation in Kunersdorf: »Wir müssen die sieben Kilometer zum nächsten Supermarkt zu Fuß laufen, ebenso den Rückweg, schwer beladen mit Einkäufen. Geld für den Bus haben wir nicht. Raucher dürfen über die Karte keine Zigaretten kaufen. Und es gibt nur einen Supermarkt, der die Chipkarten annimmt.« Diese Fixierung auf ein Geschäft nutze allein dem Inhaber des Ladens, der sich über gesicherte Umsätze freuen kann und führe unter anderem dazu, daß zum Beispiel vietnamesische Familien nicht im Asia-Lebensmittelgeschäft einkaufen können.
Beim Protest im und vor dem Landratsamt wurden die Flüchtlinge von Bauarbeitern rassistisch beschimpft, während ein Jugendlicher mit kahlrasiertem Kopf und einer Runentätowierung auf dem Oberarm freundlich mit der Polizei plauschte. Nach einer Weile tauchte der amtierende Landrat Michael Bonin auf. Zunächst erklärte der CDUler den Flüchtlingen, daß er für ihr Anliegen Verständnis habe, aber leider nichts für sie tun könne, weil ein Bundesgesetz die Ausgabe von Chipkarten beziehungsweise Gutscheinen vorschreibe.
Das ist schlichtweg falsch. Erst vor sechs Wochen hat etwa der nahe gelegene Kreis Teltow-Fläming auf Bargeld umgestellt. Diesem Argument begnete Landrat Bonin mit einer Erläuterung, wieso er die Chipkarten – deren Ausgabe für den Kreis übrigens teurer ist als die Ausgabe von Bargeld – für sinnvoll und notwendig hält. »Den Schwächeren würde das Geld möglicherweise von Kriminellen weggenommen werden. Wir müssen die Schwächeren schützen.« Offen ließ Bonin die Frage, ob er seiner Logik folgend nicht auch Chipkarten für deutsche Sozialhilfeempfänger oder Behinderte einführen wolle. Wenn sich die Flüchtlinge diskrimiert fühlen, dann sollten sie sich doch an die Polizei wenden, riet er.
Zur Zeit des Redaktionsschlusses dauerte der Protest im Landratsamt an. Die Flüchtlinge diskutierten ihr weiteres Vorgehen und zeigten sich entschlossen, weiterhin die Karten zu boykottieren, bis eine Lösung gefunden ist. Vor dem Amt ereiferte sich derweil eine Passantin über das Transparent mit der Aufschrift »Bargeld für alle«. »Jetzt wollen ausgerechnet die auch noch mehr Geld.«
Gruppe von Asylbewerbern fordert Bargeld statt Wertchip
(Silke Müller, MOZ) Eine klare Absage hat der amtierende Landrat Michael Bonin gestern Morgen jenen Asylbewerbern erteilt, die ihre Forderung, Bargeld statt Chipkarten zum Lebensunterhalt zu erhalten, im Landratsamt in Seelow lautstark fortgesetzt haben. Bereits am Mittwoch hatten Asylbewerber im Kunersdorfer Heim das Ausgeben von Bargeld statt wie bislang der Chipkarten gefordert (MOZ berichtete).
Michael Bonin erläuterte den rund 30, sehr unterschiedlich aktiv auftretenden Protestierenden mehrfach, dass das Chipkartensystem gesetzeskonform sei und nach Auffassung des Kreises den Asylbewerbern in Märkisch-Oderland am besten den Lebensunterhalt sichere. “Wir kennen Fälle, da wurden selbst die Chipkarten in Zigaretten und Schnaps in Mengen und so später in Bargeld umgesetzt. Wir müssen befürchten, dass nach solchen Einkäufen der Familienväter der Lebensunterhalt für Frauen und Kinder nicht mehr gesichert ist. Das können wir nicht zulassen”, erklärte Bonin gegenüber der MOZ. Sozialdezernentin Marlies Werner informierte, dass es am Mittwoch zu handgreiflichen Auseinandersetzungen innerhalb der Asylbewerber gekommen sei. “Ein Teil der in Kunersdorf lebenden Asylbewerber wurde daran gehindert, sich die Chipkarte aufladen zu lassen, mit der in ausgewählten Geschäften Lebensmittel gekauft werden können”, beschrieb Marlies Werner die Situation und schlussfolgert, dass es sich bei den Protestierenden offenbar keineswegs um alle Asylbewerber, sondern um eine Gruppe von Aufwieglern handele.
Die Mitarbeiter des Landkreises, die die meisten der 550 in Märkisch-Oderland gemeldeten Asylbewerber, von denen rund 320 in den Heimen in Kunersdorf und Waldsieversdorf untergebracht sind, kennen, erklärten gestern, dass es sich bei den Wortführern im Landratsamt nicht um Bewerber aus dem Landkreis handele. Die Protestierenden erklärten diesen Umstand mit Sprachproblemen und der deshalb nötigen Hilfe durch Auswärtige. Michael Bonin riet den Protestierenden, sich in geordneter Form ihre Chipkarten aufladen zu lassen, sonst könnten sie gar keine Lebensmittel kaufen. Danach stehe ihnen trotzdem frei, an geeigneter Stelle in geeigneter Form für ihre Forderungen einzutreten. Die Proteste wurden mehr oder minder lautstark fortgesetzt. Zugleich nahmen einige Asylbewerber die Gelegenheit wahr, ihre Chipkarten aufladen zu lassen.
Gegen 13 Uhr nahm der amtierende Landrat sein Hausrecht wahr, “um wieder eine ruhigere Arbeitsatmosphäre den Mitarbeitern des Landratsamtes zu sichern. Sonst sind mir morgen die meisten mit Kopfschmerzen oder Ähnlichem belastet”, so Bonin gegenüber MOZ. Bis 13.35 Uhr hatten die Asylbewerber Gelegenheit, freiwillig das Landratsamt zu verlassen. Andernfalls hätte eine etwa 20-köpfige Polizistengruppe, die bereits den ganzen Vormittag allein durch ihre Anwesenheit dafür sorgte, dass die Situation nicht eskalierte, das Hausrecht für den amtierenden Landrat durchgesetzt. Ein Eingreifen der Polizei war jedoch nicht nötig, die Protestierenden verließen das Landratsamt und machten sich teilweise im Anschluss auf den Weg zum Einkaufszentrum in Seelow.
Flüchtlinge besetzen Sozialamt
Etwa 200 Asylbewerber im Landkreis Märkisch-Oderland protestieren dagegen, dass sie nicht Geld, sondern nur Chipkarten erhalten. Diese schränke ihre Einkaufsfreiheit ein
(TAZ) Etwa 200 Asylbewerber haben mit einem Sit-in und der Besetzung eines Sozialamtes dagegen protestiert, dass sie nur Sachleistungen statt Geld erhalten. Die Bewohner des Asylbewerberwohnheims in Kunersdorf im Landkreis
Märkisch-Oderland wanden sich mit diesen Aktionen gegen das
Chipkarten-System, das sie zwingt, nur das einzukaufen, was ihnen vorgegeben wird — und nur in den Läden, die solche Chipkarten akzeptieren.
Nach Auskunft der Asylbewerberin Cau Eben aus Kamerun nahm der Konflikt im vergangenen Monat seinen Ausgang. Die Asylbewerber hatten Bargeld erhalten, da die Auflademaschine für die Chipkarten defekt gewesen sein soll. So sei ihnen klar geworden, dass die Auszahlung von Bargeld möglich sei, erklärt Cau Eben. Deshalb habe man die erneute Umstellung auf Chipkarten-Bezahlung
in diesem Monat nicht mehr akzeptieren wollen, erklärt die 36-Jährige. Die Chipkarten begrenzten die Einkaufsfreiheit, so die Kamerunerin.
Um für das Auszahlen von Geld zu demonstrieren, hätten deshalb etwa 200 Flüchtlinge am Mittwoch vor dem Landratsamt in Wrieze
n demonstriert, sagte Cau Eben. Dieses Sit-in habe von 13 bis 20 Uhr gedauert. Am gestrigen
Donnerstag habe man dann für einige Stunden das Sozialamt von Seelow besetzt, um der Forderung Nachdruck zu verleihen. Nach und nach habe man die Aktion beendet, da sich Frauen und Kinder an der Aktion beteiligt hätten,
die zum einen müde geworden, zum anderen hungrig gewesen seien, weil sie kein Geld zum Einkauf erhalten hatten. Weil die Asylbewerber Geld statt Sachleistungen wollten, weigerten sie sich, ihre Chipkarte wieder aufladen
zu lassen.
Mit einem “Kaufladen”-Besitzer in Seelow kamen die Demonstranten schließlich überein, zwar weiter mit der Chipkarte zu bezahlen, wie Cau Eben mitteilte.
Der “Kaufladen”-Besitzer war jedoch bereit, auch Lebensmittel auszugeben, die mit Chipkarten eigentlich nicht bezahlt werden können.