Die Mühlen der Justiz: Potsdamer Amtsgericht verurteilte Gegendemonstranten nach NPD-Aufmarsch zu Haft auf Bewährung
Rechtsanwalt Steffen Sauer begann sein Plädoyer mit der Feststellung, daß Videos von jedem aus unterschiedlichem Blickwinkel gesehen werden. Ihm war anzusehen, daß er noch ganz unter dem Eindruck dessen stand, was da etwa 20 Minuten zuvor über den Bildschirm im Saal 310 des Potsdamer Amtsgerichtes geflimmert war. Es waren Bilder einer Auseinandersetzung zwischen Polizeibeamten und Demonstranten, die am 14. September 2002 auf der Grünfläche vor dem Potsdamer Hotel »Mercure« eskalierte. An jenem Tag hatten sich NPD-Mitglieder zu einer genehmigten Demonstration in Potsdams Innenstadt versammelt. Linke Demonstranten hatten gegen den Aufmarsch Front gemacht – ebenfalls legal angemeldet. Auf jener Wiese kam es zum Show down. Etwa sechs bis acht NPD-Anhänger hatten sich offenbar dorthin verirrt, und – nach Zeugenaussagen – 50 bis 100 Gegendemonstranten wollten sich auf sie stürzen. Die Polizei stellte sich zwischen die Konfliktparteien und brachte die Attackierten in einem Polizeifahrzeug – landläufig »Wanne« genannt – unter. Diese Wanne wurde umgehend von den Demonstranten angegriffen. Deshalb erhielten die Beamten laut Klageschrift den Auftrag, die Menschenmenge von der Kreuzung wegzudrängen. Widerstandslos wollten das die Bedrängten nicht mit sich geschehen lassen. Rangeleien zwischen Demonstranten und Polizisten begannen, möglicherweise fielen auch Schimpfwörter. Die Polizeibeamten rissen eine schwangere Frau aus der Menge der Demonstranten heraus, weil sie die Beamten beleidigt haben soll. In dem entstehenden Tumult soll der Angeklagte Thomas K., so die Staatsanwaltschaft, den Polizisten Steffen V. mit Springerstiefeln so gegen das rechte Knie getreten haben, daß dieser trotz Schutzausrüstung einen Riß des rechten Innenmeniskus davongetragen habe. Mehrere Wochen Dienstausfall seien die Folge gewesen. Thomas K. wurde zu Boden gerissen und soll sich auch dort weiter zur Wehr gesetzt haben. Dabei habe er die Beamten als »Wichser« beleidigt. Das alles ergebe nach der Klageschrift den Tatbestand der Beleidigung, des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte sowie der gefährlichen, weil mit Springerstiefeln begangenen, Körperverletzung.
Zum Beweis der Anklage hatte der Staatsanwalt drei Zeugen aufgefahren, alles Polizisten. Ein Video, ebenfalls von Polizeibeamten aufgenommen, sollte den Vorwurf erhärten. Die Zeugen stützten die Anklage, das Video nicht. Jedenfalls war weder zu erkennen, daß der Angeklagte getreten hat, noch zeigte einer der Polizisten Reaktionen auf eine Gewalteinwirkung. Verteidiger Sauer versuchte, die Glaubwürdigkeit der Zeugen zu erschüttern. So habe einer der Beamten behauptet, die schwangere Frau sei sanft herausgeführt worden. Nach Ansicht der Videobilder fragte Sauer das Gericht, was dann wohl brutal sei? Offensichtlich habe der Zeuge hier etwas Falsches ausgesagt.
Richter Lappe folgte in seinem Urteil dennoch weitgehend dem Antrag der Staatsanwaltschaft und verurteilte den 25-jährigen Kfz-Schlosser zu sieben Monaten Haft, ausgesetzt zu einer zweijährigen Bewährungszeit. Seine Begründung stützte er vorwiegend auf die Zeugenaussagen. Er betonte, daß auch er keine Sympathien für Rechte habe. Aber er habe auch keine Sympathien für Gewalttätige. Auch Rechte haben, so der Richter, ein Recht auf körperliche Unversehrtheit. Was die Gegendemonstranten wohl eher nicht beanspruchen durften, wie man im Video unschwer erkennen konnte. Aber – wie Sauer sagte: Jeder hat seinen eigenen Blickwinkel. Der von Richter Lappe war eben ein anderer. Früher sei der Richter, wie Rechtsanwalt Sauer erfahren haben will, Polizist gewesen…
(Inforiot) Näheres zu den Ereignissen am 14.9. in Potsdam ist auf einer im Vorfeld der Aktionen erstellten Inforiot Sonderseite nachzulesen.