Heute morgen um 6:00 Uhr wurde der Landesvorsitzende der Arbeiterwohlfahrt,
Landesverband Berlin Hans Nisblé unsanft aus dem Schlaf geholt.
Mitten in Falkensee bei Berlin weckten 20 Überflüssige in ihren typisch
roten Pullis und weißen Masken mit viel Tamtam, Trommeln und Trompeten den
Berliner AWO-Chef.
Anlass dieses morgendlichen Besuchs ist die Übereichung eines offenen
Briefes der Überflüssigen an Herrn Nisblé wegen seiner unrühmlichen Rolle
bei der Besetzung der AWO Landesvertretung vor knapp einem Jahr.
Damals hatten mehr als 50 Überflüssige gegen die Einführung sogenannter
1‑Euro-Jobs bei der AWO-Berlin protestiert. Statt mit den Überflüssigen zu
diskutieren holte der diskussionsunwillige Landesvorsitzende die Polizei und
stellte Strafantrag wegen Hausfriedensbruch.
Am 25. Oktober 205 kommt es nun zum ersten Prozess gegen einen der
Überflüssigen, zahlreiche weitere Ermittlungsverfahren sind anhängig.
In ihrem offenen Brief, der auch in der Nachbarschaft verteilt wurde,
fordern die Überflüssigen Herrn Nisblé auf , die Strafanzeigen sofort
zurückzuziehen.
Die Überflüssigen erhoffen sich mit dieser Aktion auch Unterstützung aus der
Öffentlichkeit.
Ab sofort können Einzelpersonen, Gruppen und Organisationen den Aufruf der
Überflüssigen mit ihrer Unterschrift unterstützen.
Und das ganz einfach: unter „www.ueberfluessig.tk“ können sich Freunde und
SympathisantInnen unter den Brief drunter setzen lassen.
Und hier zum Nachlesen der offene Brief:
Sehr geehrter Herr Nisblé,
am 11.Oktober 2004 haben wir uns in den Räumlichkeiten der AWO
Landeszentrale Berlin kennen gelernt. Sie erinnern sich gewiss: Wir, das
sind die Überflüssigen, leicht zu erkennen an ihren leuchtend roten
Kapuzenpullovern und ihren weißen Masken.
Nachdem der Bundesvorsitzende ihrer Organisation, Herr Manfred Ragati mit
seinen unerträglich zynischen Äußerungen zur Einführung der so genannten
1-?-Jobs die Arbeiterwohlfahrt in den Mittelpunkt unseres Interesses gerückt
hat, haben Sie, Herr Nisblé, den Zuschlag für die erste öffentliche Aktion
der Überflüssigen erhalten.
Wir wollten Ihnen im Rahmen einer symbolischen Besetzung die Gelegenheit
bieten, sich im Namen ihres Landesverbandes zum Leitbild der AWO
„Solidarität, Toleranz, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit“ zu bekennen.
Wir waren und sind bis heute der festen Überzeugung, dass diese Grundsätze
mit dem begierigen Einrichten von 1-?-Arbeitsgelegenheiten durch die AWO
unvereinbar sind: Ein Wohlfahrtsverband, der sich selbst treu bleiben will,
darf sich an dieser Maßnahme des repressiven Arbeitszwangs niemals
beteiligen.
Von Ihrem Diskussionsstil, Herr Nisblé, sind wir gelinde gesagt schwer
enttäuscht. Unseren guten und nach wie vor gültigen Argumenten gegen
1-?-Jobs wussten Sie nichts zu entgegnen. Als einzige Reaktion riefen Sie
die Polizei und stellten Anzeige wegen Hausfriedensbruchs.
Es ist nie zu spät umzukehren, Herr Nisblé. Sicherlich haben auch Sie
inzwischen festgestellt, dass verantwortungsvolle soziale Arbeit nicht mit
zwangsverpflichteten Arbeitskräften gewährleistet werden kann. Und gewiss
haben Sie im Gespräch mit 1-?-JobberInnen erkennen können, dass Sie Ihren
ursprünglichen Vorsatz, nur freiwillige Arbeitslose zu beschäftigen, nicht
einhalten können: Bei 345 ? ALG II wird nun mal jeder zusätzliche Euro
existenziell. Vielleicht hat Sie ja auch ein Entschluss des
Landesjugendrings Berlin — zu dessen Mitgliedern das Jugendwerk der AWO
Berlin zählt – ins Grübeln gebracht: Im Bereich der Jugendarbeit werden
keine 1-?-Jobs aufgebaut.
Es gibt also viele gute Gründe, sich von 1-?-Jobs zu distanzieren und keine
guten Gründe, die Auseinandersetzung darum schlicht als Hausfriedensbruch
abzutun.
Dass der soziale Frieden aktuell nicht nur in Ihrem Hause, sondern auch an
vielen anderen Orten des sozialen Grauens gebrochen wird, haben wir
Überflüssigen übrigens im Lauf des letzten Jahres überall in der
Bundesrepublik immer wieder angeprangert.
In Hamburg, Berlin und Darmstadt setzten wir uns in Luxusrestaurants für
eine offensive Umverteilung von oben nach unten ein; in Jüterbog und
Luckenwalde gestalteten wir die Montagsdemonstrationen gegen Sozialabbau
mit. Wir haben uns mit Gerhard Schröder, Joseph Fischer und Wolfgang Clement
gestritten, sind im Wahlkampf in Düsseldorf, Lübeck und Wittenberg
aufgetaucht und haben am 3. Januar 05 im Rahmen der Agenturschlusskampagne
den Start von Hartz IV in Berlin blockiert. In Lüchow setzten wir die
Zwangsräumung eines städtischen Sachbearbeiters durch und in Berlin
unterstützten wir LIDL-Beschäftigte in ihren Arbeitskämpfen.
Auch der Arbeiterwohlfahrt haben wir immer wieder Argumentationshilfen zur
Auseinandersetzung um eine angemessen finanzierte soziale Arbeit gegeben:
Bei unserem ersten Berliner Zusammentreffen, auf der AWO-Konferenz in Bremen
Ende Oktober 2004, bei einer Kundgebung vor Ihrer neuen Landeszentrale im
April diesen Jahres. Vielleicht haben Sie ja auch die riesigen Plakate im
Stadtbild Berlins bemerkt, die sich optisch ansprechend mit der
Niedriglohnpolitik der Arbeiterwohlfahrt auseinandersetzen?
Noch sind wir gerne bereit, die Diskussion um 1-?-Jobs bei der AWO (und
natürlich auch den anderen großen Sozialverbänden) gemeinsam mit Ihnen zu
einem glücklichen Ende zu führen.
Sollten wir gezwungen werden, die AWO-Niedriglohnpolitik in dem –auf Grund
Ihrer Anzeige- bevorstehenden bundesweit ersten Prozess gegen die
Überflüssigen zu thematisieren, wäre diese Chance vertan.
Der nächste Schritt liegt bei Ihnen, Herr Nisblé! Nehmen Sie die
Strafanzeigen zurück!
<p<
Gegen 1-?-Arbeitszwang! Für eine angemessene Bezahlung aller Arbeit! Für
soziale Kämpfe ohne Polizei und Gerichte!
Mit freundlichen Grüßen