DEUTSCH-TÜRKISCHER FAMILIE SCHLÄGT IN BASDORF ARGWOHN UND HASS ENTGEGEN / DISKUSSION TROTZ VERHÄRTETER FRONTEN
BASDORF (Märkische Allgemeine/Barbara Breuer) Zirkus in der Barnim-Gemeinde Basdorf bei Berlin: Nicht nur, dass ein großes Zelt den Marktplatz ziert, auch die Basdorfer sind außer Rand und Band. Vergangenen Herbst zog die deutsch-türkische Familie Canaydin mit sechs Kindern aus einer Berliner Hochhaussiedlung in die Mark. Sechs Wochen später begann der Stress.
“Meine Tochter hat am 6. September aus dem Fenster den Nachbarhund gerufen und ein paar Jugendliche fühlten sich dadurch belästigt”, erzählt die 39-jährige Deutsche Martina Canaydin. Einige Jugendliche bedrohten ihre Kinder daraufhin mit ausländerfeindlichen Parolen.
Gerade hat die kräftige Frau ihre Doppelhaushälfte geputzt. Jetzt sitzt sie im Sessel und raucht. Sie erzählt von Drohbriefen wie: “Haut ab, ihr habt in Basdorf nichts zu suchen, Muftifamilie.” Deshalb hat sie mehrfach Anzeige erstattet. In 13 Straftaten wird ermittelt. Stündlich fährt die Polizei bei den Canaydins vorbei. Auch die Familie wurde mittlerweile viermal angezeigt: So hat die 18-jährige Yesim eine 15-jährige Basdorferin geohrfeigt und an der Lippe verletzt. Martina Canaydin wird Beleidigung vorgeworfen.
Ostermontag gröhlte ein betrunkener 17-Jähriger “Heil Hitler”. Später warf er eine Bierflasche gegen das Haus. Als Grund nennt er “den Suff und dass die uns so dämlich angemacht haben”. Der junge Mann nahm ein Gesprächsangebot der Canaydins wahr und entschuldigte sich letzte Woche persönlich.
“Dieser Junge hat mehr Mut als wir alle”, sagt der 43-jährige Engin Canaydin, ein schlanker, kleiner Mann. Das Deutsch des arbeitslosen Lagerarbeiters ist nicht perfekt, doch er spricht deutlich. Engin Canaydin steht Donnerstagabend in der Basdorfer Mehrzweckhalle. Wegen der Bedrohungen und der Gewalttaten wurde eine Bürgerversammlung einberufen. “Was haben wir Ihnen getan?”, fragt er und wirkt erschöpft.
Knapp 400 Basdorfer sind gekommen. Die seitliche Tribüne ist voll mit Jugendlichen. Manche hören zu, manche lachen. “Etliche Freunde von mir sind an diesem Konflikt beteiligt”, erzählt eine 16-Jährige. Sie sieht keine Lösung. “Ich habe mehrfach versucht, mit Frau Canaydin vernünftig zu reden, doch die ist fast auf mich los gegangen”, erzählt sie. Die Töchter der Canaydins provozierten häufig mit “Scheißdeutsche” oder “Ossis”. Die Schülerin hat die Nase voll davon, “dass Basdorf in den Medien in den Dreck gezogen wird”. Das geht vielen so.
“Ich finde es merkwürdig, dass eine persönliche Sache hier zum Politikum gemacht wird”, äußert der Basdorfer Christian Schümann. Er kann sich nicht vorstellen, dass Basdorf eine Hochburg des Rechtsradikalismus sein soll. “Sicher sind unter den anwesenden Kindern auch ein paar lebhaftere, doch das ist normal”, behauptet er. Ein Buhruf ertönt, gefolgt von Applaus. “Wird eine Familie 13 Mal attackiert, ist das keine Privatsache und der Hitler-Gruß ist auch nicht normal”, erklärt die brandenburgische Ausländerbeauftragte Almuth Berger. Ein Nachbar der Canaydins ergreift das Mikro. “Ich kann den Vorwurf Ausländerfeindlichkeit nicht nachvollziehen”, sagt er und bezweifelt, dass es zu Straftaten gegen die Familie gekommen sei. Türkische Fernsehsender filmen und der türkische Konsul aus Berlin, Aydin Durusoy, ist auch da.
Polizei-Schutzbereichsleiter Arne Feuring warnt: “Wir dürfen nicht zulassen, das eine Familie hier kriminell gemobbt wird.” Und zwischenmenschliche Konflikte könnten nicht mit den Möglichkeiten des Strafrechts ausgetragen werden. Deshalb drohte er beiden Parteien damit, dass jedes weitere Vergehen schnell bestraft würde. “Meine Kinder haben die Anweisung, sich nicht zu wehren, wenn sie beschimpft oder angegriffen werden”, so Martina Canaydin. Die Jalousien in ihrem Haus waren bislang stets herunter gelassen — auch tagsüber. “Wir sitzen hier 24 Stunden am Tag eingesperrt”, erklärt sie, “denn in einer Drohung stand, dass wir immer beobachtet werden.” Beim Einkaufen habe ihr neulich jemand zugeraunt ‚Wir hassen diese fette Familie. “Hätte ich keinen türkischen Mann, würden die uns hier nicht wollen, weil wir dick sind”, vermutet Martina Canaydin. Ein Kopftuch trägt keine ihrer Töchter. Doch als Neuzuzügler werde von ihnen Anpassung gefordert. “Ich habe mich 39 Jahre nicht angepasst und werde es auch nicht”, sagt sie. Dann fügt sie hinzu: “Uns muss ja hier niemand lieb haben, sie sollen nur akzeptieren, dass wir hier leben.”
Ihr Nachbar Gernot Druschke hat dafür kein Verständnis. “Die Familie macht hier ständig Remmidemmi und stört. Die Kinder klettern aus den Fenstern und haben ein großes Mundwerk”, sagt er.
Als der Jugendliche Marvin Funcke in der Mehrzweckhalle das Mikrofon ergreift, wird laut geklatscht. “Die ganze Sache wurde hier so hochgepeitscht, nur weil der Vater Türke ist. Und zu so etwas gehören immer zwei Leute.” Wer neu in der Schule sei, habe sich unterzuordnen. Auch eine Schülerin meldet sich: “Hier gibt es keine Einrichtung, wo Jugendliche abends hingehen könnten. Sie saufen sinnlos rum und machen Leute fertig, weil sie sonst nichts zu tun haben”, erklärt sie.
Das Ergebnis der knapp zweistündigen Versammlung: Es soll sich eine Gruppe zur Streitschlichtung gründen. Martina Canaydin hat gegen 22 Uhr rote Flecken im Gesicht. Sie fühlt sich unwohl. Marvin Funcke steht ihrem Mann gegenüber und sagt: “Ich habe nichts gegen dich, weil du Türke bist, sondern dagegen, wie deine Töchter mir gegenüber auftreten.”
Engin Canaydin lädt den jungen Basdorfer daraufhin samt Kumpels zum Kaffeetrinken und Reden ein. Auch Martina Canaydin betont, dass ihr Haus stets jedermann offen steht. Fortziehen wollen die Canaydins nicht. Noch nicht. Doch die Mutter ergänzt: “Wenn sie meinen Kindern etwas tun, dann bin ich weg”.
Was bisher in der Gemeinde Basdorf geschah
Gegen die Canaydins verübte Delikte:
6. September 2001: Bedrohung
22. September 2001: Jemand ruft “Heil Hitler”. In das Auto eines Freundes wird ein Hakenkreuz geritzt.
8. Oktober 2001:Beleidigung
10. Oktober 2001: Beleidigung
14. Oktober 2001: Bedrohung
23. Februar 2002: Bedrohung
9. März 2002: Die Jalousien am Haus der Canaydins werden aus den Verankerungen gerissen.
11. März 2002: Binnen 30 Minuten rasen ein Auto‑, dann ein Motorradfahrer auf dem Markt auf Martina Canaydin zu.
1. April 2002: Ein betrunkener Jugendlicher wirft eine Bierflasche gegen das Haus der Familie Canaydin. Kurz zuvor ruft er “Heil Hitler”.
Von den Canaydins verübte Delikte:
23. Februar 2002: Beleidigung
11. März und 27. März: Die 18-Jährige Yesim Canaydin verletzt eine 15-jährige Basdorferin mit einer Ohrfeige an der Unterlippe. Die Mädchen beschuldigen sich gegenseitig, provoziert zu haben.
27. März 2002: Jemand wird von Martina Canaydin bedroht.