POTSDAM Die Affäre um den enttarnten V‑Mann des brandenburgischen Verfassungsschutzes, der als Neonazi in Straftaten verwickelt war, zieht weiter Kreise. SPD und oppositionelle PDS forderten gestern von Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) Aufklärung des Falls. “Wenn die Straftaten des V‑Mannes bis zum Mordaufruf an Prominenten gehen, ist die Grenze überschritten”, sagte SPD-Innenpolitiker Werner-Siegwart Schippel. Die PDS will eine grundsätzliche Debatte über die Arbeit mit V‑Leuten führen. Landeschef Ralf Christoffers sagte, es liege eine fehlerhafte Arbeit der politisch Verantwortlichen mit V‑Leuten vor.
Unterdessen wächst der Druck vor allem auf Verfassungsschutzchef Heiner Wegesin, dem Koalitionspolitiker die Hauptschuld daran geben, dass der V‑Mann trotz Führung durch den Verfassungsschutz aus dem Ruder laufen konnte. Das Innenministerium wollte sich gestern zu dem Fall nicht äußern. Kommende Woche tagt dazu die Parlamentarische Kontrollkommission (PKK) des Landtags.
Indes werden immer neue Details bekannt, wie der 27-jährige V‑Mann an der Herstellung von CDs mit rechtsextremistischem Inhalt aktiv beteiligt war. Er soll bereits im Jahr 2000 an der Erstellung der CD “Noten des Hasses” mitgewirkt haben. Auf dieser CD wird zum Mord an prominenten Neonazi-Gegnern aufgerufen.
Auf beiden Seiten abkassiert
POTSDAM/GUBEN Die Vorwürfe gegen den enttarnten Spitzel des brandenburgischen Verfassungschutzes, Toni S., werden immer massiver. Er soll als V‑Mann nun auch Straftaten im Zusammenhang mit der Produktion einer volksverhetzenden CD begangen haben, gegen deren Hersteller und Vertreiber die Berliner Justiz ermittelt.
Wie die MAZ aus Sicherheitskreisen erfuhr, soll der 27-jährige Neonazi Ende 2000 “bei der Erstellung der CD ‚Noten des Hasses aktiv mitgewirkt” haben. Für die erste Pressung dieser Hass-CD soll S. Kontakte zwischen den Musikern der rassistischen Band “White Aryan Rebels” und den Tonstudios hergestellt sowie “an den Studioaufnahmen mitgewirkt” haben. In welchem Umfang dies geschehen sein soll, ist nicht bekannt. Aufgenommen wurden die “Noten des Hasses” wahrscheinlich im Ausland, in “Ungarn oder Dänemark”.
Erst gestern hatte die MAZ von bislang unbekannten Machenschaften des Spitzels berichtet. Demnach soll S. im Jahr 2000 auch an Herstellung und Vertrieb der CD “Ran an den Feind” der Neonazi-Kultband “Landser” beteiligt gewesen sein. Potsdamer Regierungskreise bestätigten dies gestern indirekt. Gegen die Mitglieder von “Landser” ermittelt der Generalbundesanwalt in Karlsruhe wegen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung.
Der jüngste Verdacht gegen den V‑Mann, auch CDs für die “White Aryan Rebels” produziert zu haben, geht über die Ermittlungen der Berliner Staatsanwaltschaft hinaus. Bislang glaubt man dort lediglich, dass Toni S. einer von wenigen Großvertreibern der CD “Noten des Hasses” gewesen sei. Die Produktion der CD wurde ihm hingegen nicht angelastet. Staatsanwaltliche Ermittlungen zu den Produktionsumständen der vermutlich ausverkauften Erstauflage dieser CD seien Anfang 2001 nach Paragraph 170, Absatz 2 der Strafprozessordnung (aus Mangel an Beweisen) eingestellt worden, teilte die Sprecherin der Berliner Staatsanwaltschaft, Ariane Faust, gestern mit.
Die aktuellen Ermittlungen der Berliner Staatsanwaltschaft haben nichts mit dieser Erstauflage der CD “Noten des Hasses”, sondern mit einer geplanten Neupressung zu tun. Nach Erkenntnissen der Berliner Justiz soll sich S. angeboten haben, die neuen “Noten des Hasses” in großer Stückzahl zu vertreiben. Wegen dieses Verdachts sitzt Toni S. seit etwa zwei Wochen in Untersuchungshaft. Festgenommen wurde er am 20. Juli von einem Spezialkommando des Berliner Landeskriminalamts in Marzahn. Diese und weitere Aktionen der Berliner Polizei in Brandenburg waren mit den Potsdamer Behörden nicht abgestimmt.
Nach Auffassung der Berliner Justiz ist Toni S. derart tief in den Handel mit neonazistischer Musik verstrickt, dass dies unvereinbar ist mit seiner Tätigkeit für den Verfassungsschutz.
Dies gilt besonders für den Vertrieb der CD “Noten des Hasses” von “White Aryan Rebels”. Herstellung und Vertrieb dieser CD gelten deshalb als strafbar, weil sie Mordaufrufe gegen prominente Neonazi-Gegner enthält. Grundsätzlich ist der Handel mit neonazistischer Musik hingegen nicht verboten. Bestimmte CDs — solche, die von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften indiziert werden — dürfen lediglich nicht an Jugendliche abgegeben werden.
Toni S., so ein Kenner der Szene, habe offenkundig versucht, den brandenburgischen Verfassungsschutz zu narren. Der überzeugte Neonazi habe einerseits Geld aus der Staatskasse für seine Spitzeldienste kassiert, andererseits habe er ohne Wissen seines Auftraggebers strafrechtliche relevante Nazi-CDs verkauft. “Der ist doppelgleisig gefahren und wollte auf beiden Seiten verdienen”, heißt es.
Bis zu seiner Enttarnung durch Berliner Behörden hat V‑Mann Toni S. dem brandenburgischen Verfassungsschutz offenbar tiefe Einblicke in die konspirativen Strukturen der neonazistischen Musik-Szene gewährt. S. galt als so gut informiert, dass auch das Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln von seinen Informationen profitieren wollte. Das Bundesamt, heißt es, habe die Handelstätigkeit des Spitzels mitgetragen, obwohl erkennbar wurde, dass er eigenmächtig agierte. So habe er ohne Wissen seines Auftraggebers weit mehr als hundert “Ran an den Feind”-CDs von “Landser” verkaufen wollen. Dies sei in der Hoffnung akzeptiert worden, Toni S. könne das geheime, weitverzweigte Vertriebsnetz der Band enttarnen helfen.
Straftaten sind untersagt
Der Umgang mit V‑Leuten ist sehr sensibel. Nach dem brandenburgischen Verfassungsschutzgesetz dürfen von ihnen “keine Straftaten begangen werden”. Geschieht dies doch, müssten sie sofort “abgeschaltet” werden, außerdem muss die Staatsanwaltschaft Ermittlungen einleiten.
Da V‑Leute sich in der Szene selbst enttarnen würden, wenn sie sich nicht anpassten, wird in der Praxis in aller Regel so verfahren: Ein V‑Mann, der zur Aufrechterhaltung seiner Tarnung und zur Aufklärung einer großen Straftat ein kleines Vergehen verübt, wird zwar zunächst angezeigt. Sollte die Straftat jedoch gering sein, wird das Ermittlungsverfahren später meistens wieder eingestellt.
Druck auf Wegesin nimmt zu
POTSDAM In der V‑Mann- Affäre wächst der Druck auf Verfassungsschutzchef Heiner Wegesin, aber auch auf Innenminister Jörg Schönbohm (CDU). Koalitionspartner SPD und die oppositionelle PDS im Landtag verlangten gestern lückenlose Aufklärung des Falles. Das Innenministerium ging nach der MAZ-Veröffentlichung gestern auf Tauchstation und lehnte jede offizielle Stellungnahme ab.
Ein 27-jähriger, inzwischen enttarnter V‑Mann aus Cottbus, soll massiv in Straftaten verwickelt und dem brandenburgischen Verfassungsschutz völlig aus dem Ruder gelaufen sein. Der Mann, der in Untersuchungshaft sitzt, soll an der Herstellung rechtsextremistischer CDs beteiligt gewesen sein, in denen zum Mord an Prominenten aufgerufen wird.
Der innenpolitische Sprecher der SPD, Werner-Siegwart Schippel, sagte, die Grenze sei überschritten, wenn der V‑Mann Straftaten bis zum Mordaufruf begangen habe. “Das wäre eine neue Dimension, die es in Brandenburg noch nicht gab”, sagte Schippel gestern der MAZ. Zu klären sei, wann die Ministeriumsspitze über die Vorgänge info
rmiert wurde. Die politische Verantwortung dafür trage in jedem Fall der Innenminister. Er hätte im Vorfeld den Fall begleiten und dem Agieren der Verfassungsschützer Einhalt gebieten müssen. Der Verfassungsschutz, betonte der SPD-Politiker, habe “keinen Freibrief”. Die Vorgänge sollen kommende Woche in der Parlamentarischen Kontrollkommission (PKK) behandelt werden, die den Verfassungsschutz überwacht.
Die PDS verlangt Konsequenzen. Es sei aber nicht allein ein “Fall Wegesin”, betonte Landeschef Ralf Christoffers. Die politisch Verantwortlichen im Innenministerium seien mit V‑Leuten fehlerhaft umgegangen. Der Verfassungsschutz habe sich selbst delegitimiert, wenn V‑Leute in Straftaten verwickelt seien oder selbst aktiv welche begehen würden. Christoffers hält vor allem zwei Fragen für dringend klärungsbedürftig: Wer im Innenministerium hat wann etwas von der V‑Mann-Panne gewusst? Und: Ist Schaden durch die Verbreitung der rechtsextremistischen CDs bei konsumierenden Jugendliche angerichtet worden?
Ungeachtet der massiven Vorwürfe versucht die CDU den Fall herunterzuspielen. Dierk Homeyer, Vize-PKK-Chef, sagte der MAZ: “Es ist alles sauber gelaufen.” Es habe von Seiten der Verfassungsschützer ein “Abwägungsprozess” stattgefunden, schließlich habe man an die Hintermänner in der Neonazi-Szene herankommen wollen. “Das ist immer eine Grauzone.” Homeyer weiter: “Ich gebe aber zu, dass das Führen von V‑Leuten ein schwieriger Prozess ist.”
Im Innenministerium war gestern Krisenstimmung. Schönbohm selbst ist um Urlaub, lässt sich aber auf dem Laufenden halten. Nach außen soll das Vorgehen in der V‑Mann-Affäre gerechtfertigt werden. Schon jetzt wird nach einer Argumentation für die PKK-Sitzung kommende Woche gebastelt: “Propagandadelikte” durch V‑Leuten müssten demnach in Kauf genommen werden. Eine gewisse Beteiligung am Vertrieb solcher CDs sei deshalb nötig, hieß es, damit der V‑Mann in der Szene keinen Argwohn erwecke.
Kommentar von Volkmar Krause
V‑Mann-Pleite
Die Affäre um den jüngst enttarnten brandenburgischen V‑Mann entpuppt sich immer mehr als Pleite der märkischen Sicherheitsverantwortlichen. Wurde noch in der Vorwoche massiv auf die Berliner Kollegen eingeprügelt, weil diese Toni S. hochgehen ließen, so müsste nun der Ehrlichkeit halber eingeräumt werden: Die Festnahme von S. war juristisch nicht nur gerechtfertigt, sie war wohl die einzig mögliche Vorgehensweise. Immerhin steckte der 27-jährige Neonazi ganz tief in Produktion und Vertrieb rechtsextremer Musik-CDs. Da auf diesen Tonträgern auch zum Mord an Brandenburgs Generalstaatsanwalt Erardo Rautenberg aufgerufen wird, hätten die Potsdamer Geheimdienstler ihren V‑Mann “abschalten” müssen. Bei der Frage, warum das nicht geschehen ist, kann nicht allein auf Verfassungsschutzchef Heiner Wegesin gezeigt werden. Wegesins Dienstherr ist Innenminister Schönbohm. Wer war wann über die braunen Aktivitäten von Toni S. informiert? Noch deckelt das Innenministerium. Falls niemand richtig darüber informiert war, was S. mit Steuerzahlergroschen trieb, dann wäre der Skandal erst recht perfekt.