Projekttage in Ravensbrück vermitteln Neuntklässlern Wissen über die
düstersten Kapitel deutscher Geschichte
Der Schwedtsee glitzert in der Sonne, und am gegenüberliegenden Ufer
schmiegt sich die Stadt Fürstenberg (Oberhavel) mit ihrem emporragenden Kirchturm in
die Landschaft.
Dennoch erschreckt die Idylle die Gruppe 15-Jähriger, denn nur knapp zehn
Meter von ihnen entfernt verbrannten die Nationalsozialisten vor rund sechzig
Jahren die Leichen von Zwangsarbeiterinnen. Sie hatten die unmenschlichen
Zustände im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück nicht überlebt.
„Der See ist ein riesiger Friedhof“, erzählt Matthias Heyl, Pädagogischer
Leiter der Jugendbegegnungsstätte in der heutigen Mahn- und Gedenkstätte. Die
Asche der Toten sei schließlich in den See gestreut worden. Betroffen lauschen
die Jugendlichen aus Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern der Schilderung.
Gemeinsam mit ihren Klassenkameraden und Lehrerinnen sollen die Schüler
zweier neunter Klassen aus Potsdam und Ribnitz-Damgarten (Nordvorpommern) etwas
über Deutschlands wohl düsterstes Geschichtskapitel erfahren.
Dazu haben Mitarbeiter der Gedenkstätte für den zweitägigen Aufenthalt ein
spezielles Konzept entwickelt: Mit der Methode des „entdeckten Lernens“ können
sich die Besucher aus acht Vorschlägen die Themen herauszusuchen, die sie am
meisten interessieren. In kleinen Arbeitsgruppen erarbeiten sie kurze
Referate über das Strafsystem im KZ, über Zwangsarbeit, medizinische Experimente
mit Gefangenen sowie Kinder im Lager. Ihre Ergebnisse präsentieren sie dann den
Mitschülern bei einem Abschlusstreffen.
„Den jungen Menschen wird hier Geschichte nicht über Bücher, sondern über
das Gefühl, direkt am Ort des Geschehens zu sein, nahe gebracht“, erläutert
Brandenburgs Landtagspräsident Herbert Knoblich. Gemeinsam mit seiner
Amtskollegin aus Mecklenburg-Vorpommern, Sylvia Bretschneider, betreut er das
länderübergreifende Schulprojekt. Beide sind deshalb Anfang der Woche mit den
Jugendlichen in die Gedenkstätte gekommen.
In dem KZ, das die SS einst als „Schutzhaftlager“ für Frauen errichtete,
waren zwischen 1939 und 1945 etwa 132 000 Frauen und Kinder inhaftiert.
Zehntausende kamen ums Leben. Sie wurden vergast, starben an Hunger, Krankheiten und
durch medizinische Experimente, erläutert Pädagoge Heyl den Jugendlichen bei
einer Führung über das Gelände. Die Opfer waren jüdische Frauen,
Kommunistinnen, polnische Zwangsarbeiterinnen, Widerstandskämpferinnen.
Ein Höhepunkt des ersten Projekttages ist das Treffen mit Überlebenden des
Lagers. Batsheva Dagan ist zu diesem Termin extra aus Israel angereist. Die
77-jährige Jüdin polnischer Abstammung schildert den Jugendlichen, wie sie mit
15 Jahren in Schwerin zum ersten Mal ins Gefängnis kam. 20 Monate verbrachte
sie später im Lager Auschwitz; mit 19 Jahren leistete sie Zwangsarbeit in
Ravensbrück. Ihre Schwester und ihre Eltern wurden im SS-Vernichtungslager
Treblinka vergast.
„Wann habt ihr zum ersten Mal vom Holocaust gehört«“, will Dagan von den
Neuntklässlern wissen. Schweigen. „Wenn du das Wort Holocaust hörst, was kommt
dir in den Sinn»…“ „Gar nichts“, „Ich weiß nicht“, lauten die Antworten.
„Nazis“, „Mord“, „Etwas Schlimmes“, sagen andere. Niemand aber nennt den
Völkermord an sechs Millionen Juden.
„Die Schüler wissen mit dem Begriff nichts anzufangen“, stellt
Begegnungsstätten-Leiter Heyl fest. In der DDR sei er nicht so bekannt gewesen.
Teilweise
wüssten sie sehr wenig über die Opfer des Nationalsozialismus, gibt die
Potsdamer Lehrerin Gabriela Kühne zu. Gerade mit Blick auf die häufigen
rechtsextremen Überfälle auf Ausländer könne man aber gar nicht früh genug über die
historischen Untaten aufklären. Allerdings steht der Nationalsozialismus in
Potsdam erst im kommenden Schuljahr auf dem Lehrplan.
Zum Schluss gehen die Schüler noch ein Stück des Todesmarsches der
ehemaligen Häftlinge. Kurz vor Ende des Krieges trieb die SS zehntausende Inhaftierte
Richtung Nordwesten, bevor die Rote Armee am 30. April 1945 etwa 3000
zurückgelassene Kranke befreite. Nach den zwei Projekttagen ist für die Schüler
„Holocaust“ kein Fremdwort mehr.
Gedenkstätte im Internet: www.ravensbrueck.de