Freitag vor zwei Wochen wurde die vierköpfige Familie Memic aus Belzig
abgeschoben. In der kleinen Stadt hatte es eine Welle der Solidarität mit
den Flüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina gegeben. Nun bleibt nur noch das
Verschicken von Kisten nach Sarajevo und tröstende Worte in der Predigt
(TAZ, 9.9.) In der verlassenen, noch vollständig eingerichteten Wohnung der Familie
Memic, zwischen hastig geschnürten Kleidersäcken und notdürftig verklebten
Kartons, steht der Pfarrerin Dagmar Greupner die Betroffenheit noch deutlich
ins Gesicht geschrieben. Eine Abschiebung gehört nicht zur pastoralen
Routine. Jörg Hallex, Chef der Ausländerbehörde Potsdam-Mittelmark, hat ihr
für ihr Mitwirken an der reibungslosen Abschiebung gedankt.
“Habe ich mich jetzt zum Handlanger der Behörden gemacht, weil ich versucht
habe, das Unvermeidbare halbwegs menschenwürdig und erträglich für die
Betroffenen zu machen?”, fragt sie zwischen zwei tiefen Zügen an ihrer
Zigarette. Bis ins Flugzeug am Tegeler Flughafen durfte sie Fahrudin und
Vesna, die Eltern, und Mehmed und Elmir, die beiden Söhne im Teenageralter
begleiten.
Fünf Jahre haben sie in Belzig gelebt, galten als integriert und als
angenehme Nachbarn. Vesna Memic putzte in einem Potsdamer Hotel die Zimmer
und bezog Betten, bis die Ausländerbehörde die Arbeitserlaubnis entzog.
Die Wohnung im sanierten Plattenbau ist gemütlich eingerichtet. In ihrem
gepachteten Schrebergarten gedeihen noch Blumen, Salat und Zucchini, die nun
vertrocknen werden. Die Jungs hatten deutsche Freunde. Elmir hatte eine
Lehre als Karosseriebauer begonnen, Mehmed wollte das Abitur machen. Die
Memic′ sahen stets in die Zukunft. “Deutschland ist ein schönes Land, mein
Land ist das Problem”, sagte Fahrudin Memic dann am Morgen seiner
öffentlichkeitswirksamen Abschiebung in die Kamera des RBB-Reporters. “Ich
glaube nicht, dass ich dort noch lange leben werde.”
Wie im Anhörungsprotokoll zum letztlich abgelehnten Asylantrag nachzulesen
ist, sieht sich die Familie im arabisierten Nachkriegsbosnien aufgrund der
Mischehe zunehmend öffentlicher Diskriminierung ausgesetzt. Die Kinder
müssen in der Schule ihre Lehrer auf arabisch grüßen, der Vater dagegen
gebietet ihnen, dies auf bosnisch zu tun. Als Vesna und Fahrudin nach vielen
Jahren des Zusammenlebens 1995 heiraten, sehen Freunde und Verwandte dies
nicht ohne Sorge. “Es ist jetzt schlimmer als im Krieg”, gab Vesna Memic den
Vernehmern vom heutigen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu
Protokoll. “Da kannte man die Gegner und wusste, wo die Fronten verlaufen.
Jetzt ist es schlimm, gesetzlos, jeder kann bedrohen, wen und warum er
will.” Selbst im Bürgerkrieg gilt die Serbin nach ihren Berichten nicht als
Feindin, versorgte die bosnischen Patrouillen ihrer Straße mit Tee und
Kaffee, distanziert sich glaubhaft von den Gräueltaten Milosevic′, dessen
Nation sie ebenso zufällig angehört wie jeder andere Mensch der seinen. Sie
nutzt auch nicht das Angebot, samt den Kindern in einem
Flüchtlingskontingent 1992 nach Deutschland zu gehen. Auch Fahrudin will
bleiben und das Land verteidigen, durch das er bis dahin als Schlagzeuger
mit seiner Band getourt war. Laut Anhörungsprotokoll bekommt er Probleme mit
militärischen Vorgesetzten, weil er sich weigert, serbische Gefangene zu
misshandeln. “Die haben das auf meine serbische Frau zurückgeführt.” Er wird
an die vorderste Frontlinie geschickt, von wo er schwer verwundet heimkehrt.
Als der Krieg vorbei ist, lebt von der Band nur noch er, der Schlagzeuger.
Er spielt nie wieder, macht stattdessen Laden und Café auf, übernimmt die
kleine Milchwirtschaft unweit Sarajevos.
Bereits im Juni 2000 wird der Asylantrag der Familie erstmals abgelehnt. Die
Fluchtgründe seien nicht staatsbedingt, so die Begründung des
Verwaltungsgerichts Potsdam, da die Situation nicht auf das gesamte
Territorium des Staates Bosnien-Herzegowina übertragbar sei. Politisches
Asyl sei deshalb nicht zu gewähren. Auch eine zweite Anhörung 2003 bringt
nichts. Ab September 2004 sind die Memic′ “vollziehbar ausreisepflichtig”,
wie es im Fachjargon heißt. Im November wird die Familie aufgefordert, bei
ihrer Botschaft Reisedokumente zu beantragen. Das tun sie zwar, holen die
Pässe auf Anraten ihres Anwalts jedoch nie ab. Mit Schreiben vom 12. Juli
kündigt die Ausländerbehörde die Abschiebung für den 26. August an, wenn die
Familie nicht bis zum Vortag freiwillig ausreise.
Als Kees Berkouwer, Ausländerbeauftragter des Landkreises, am 7. August von
der drohenden Abschiebung erfährt, ist es bereits zu spät. “Hätten Sie sich
ein Jahr früher damit beschäftigt, hätte man vermutlich etwas für die
Familie tun können”, muss sich Berkouwer von Ausländerbehördenchef Hallex am
Ende sagen lassen. Gemeint war: Jedes Gesetz hat Lücken. Kees Berkouwer
bleibt neben Intervenierungsversuchen bei der Ausländerbehörde nur noch die
Öffentlichkeit. Unterstützt von den städtischen Gesamtschülern, die
ebenfalls erst “fünf vor zwölf” von der Abschiebung ihres Mitschülers Mehmed
erfahren, hunderte Unterschriften sammeln und mit der Forderung vor das
Landratsamt ziehen, Mehmed solle wenigstens seine Schulausbildung beenden
dürfen. Der Landrat Lothar Koch (SPD) lobt die Schüler ob ihrer Solidarität
als “Mut machendes Korrektiv”, findet den Mut zur Korrektur dann selbst aber
nicht. Eine Welle der Empörung wogt durch das kleine Belzig.
Am Morgen der Abschiebung (die taz berichtete) stehen etwa 80 SchülerInnen
und 7 LehrerInnen ab vier Uhr morgens vor dem Haus der Memic′. Verhindern
können sie die Abschiebung nicht. In ihrer Sonntagspredigt zwei Tage später
liest Dagmar Greupner über die Heilung eines Aussätzigen aus dem
Markus-Evangelium: “Er war für die anderen eigentlich schon gestorben. Nicht
aber für Jesus. Er hat das Gesetz ignoriert, er hat seine eigene Angst, dann
ebenfalls ausgegrenzt zu werden, überwunden.” Ein mit den Memic′
befreundetes deutsches Tierarzt-Ehepaar bietet an, Mehmed aufnehmen zu
wollen, wenn er — als Einziger — vielleicht wieder eine Einreisegenehmigung
erhält, damit er sein Abitur doch noch machen kann. Für den Rest der Familie
gibt es keine Wiederkehr. Als Landrat Koch die demonstrierenden SchülerInnen
fragt, ob sie allen Ernstes glaubten, er könne sich über geltendes Recht
hinwegsetzen, nicken diese: Wenn es inhuman ist: Ja!
Die Memic′ haben sich inzwischen aus Sarajevo gemeldet. Ihr Haus ist völlig
zerstört, die Familie hat sich vorläufig auf verschiedene Verwandte
verteilt. Ihr weiteres Leben ist ebenso ungewiss wie die Frage, womit
Fahrudin Memic das teure Insulin kaufen soll, dass er als hochgradiger
Diabetiker täglich braucht. In der Belziger Gesamtschule wird inzwischen
Geld gesammelt, um das Hab und Gut der Familie nachzuschicken. Eile ist
geboten. Die Wohnung der Memic′ ist bereits wieder vermietet, ließ das
Sozialamt den ehrenamtlichen Ausländerbeauftragten wissen, und müsse
dringend geräumt werden.