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Zum Schülermord von Potzlow werden weiter Zeugen befragt
Ermittlungen auch wegen unterlassener Hilfe
Neuruppin/Potzlow
Nach der brutalen Ermordung des Schülers Marinus Schöberl in Potzlow (Uckermark) sind noch nicht alle möglichen Zeugen vernommen worden. Wie gestern von der Staatsanwaltschaft Neuruppin zu erfahren war, soll vorher nicht über mögliche Mitwisser der Tat informiert werden. Der seit Juli vermisste 16-jährige Schüler war erst vor wenigen Tagen in einer ehemaligen Stallanlage entdeckt worden (die RUNDSCHAU berichtete). Die drei als rechtsextrem eingestuften mutmaßlichen Täter im Alter von 17 und 23 Jahren sitzen in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft ermittelt auch wegen unterlassener Hilfeleistung. Zeugen sollen die Auseinandersetzung der Jugendlichen vor dem Verbrechen miterlebt haben, ohne dass sie davon die Polizei informiert hatten.
“Klare Normen und Grenzen vermittelt”
Jugendhaus will sich Fragen stellen
Potzlow/Strehlow. “Solche kleinen Orte wie unsere wissen nur schwer damit umzugehen. Ohne die Unterstützung des Mobilen Beratungsteams wären wir völlig überfordert”, räumt Peter Feike, ehrenamtlicher Bürgermeister der Gemeinde Oberuckersee und Mitarbeiter im Jugendhaus Strehlow, bereitwillig ein. Etwas über zwei Wochen sind seit dem Bekanntwerden des Mordes an dem 16-jährigen Marinus S. aus Gerswalde vergangen, und noch immer stehen die Bewohner in und um Potzlow, wo die Tat im Juli von drei Jugendlichen begangen wurde, unter Schock.
Karin Dörre und Jürgen Lorenz vom Mobilen Beratungsteam des Landes Brandenburg, versuchen mit psychologischen Gesprächen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu helfen, das Unfassbare zu verarbeiten, damit umzugehen. Doch über die Seelenlage der Bewohner, die mit den Tätern und dem Opfer lebten, können auch sie nur Vermutungen anstellen.
“Wo immer man sich trifft, auf der Straße, an der Kaufhalle, man kommt immer wieder darauf zu sprechen”, schildert Karin Dörre. Angesichts der Demonstrationen der Antifa-Gruppen aus Berlin und der Uckermark, die am Wochenende mit Lautsprecherwagen, Musik und Reden durch Potzlow, Strehlow und später Prenzlau zogen, wirbt Wolfram Hülsemann, Leiter des Potsdamer Geschäftsstelle des Mobilen Beratungsteams, um Verständnis, dass diese Aktionen vor Ort auf wenig Verständnis stoßen: “Die ländliche Bevölkerung hat eine andere Art zu kommunizieren, mit Trauer umzugehen, als Großstädter.”
Konfliktlinie gezogen
Was die Arbeit der Mobilen Beratungsteams als Teil des Handlungskonzeptes “Tolerantes Brandenburg” der Landesregierung betrifft, setzten sich die Mitarbeiter kritisch mit der praktizierten Jugendarbeit auseinander: “Wir kommen viel im Land herum und lassen uns nicht zukleistern.” Gerade im Jugendhaus Strehlow, so Hülsemann, wären die Mitarbeiter alles andere als gleichgültig gegenüber rechten Verhaltensweisen. “Hier wurde eine Konfliktlinie gezogen, die sich deutlich an demokratischen Grundrechten orientiert. Wer in dieses Haus hereinkommt, erfährt klare Normen, Markierungen und Grenzen”, weist er den Vorwurf zurück, dass das Haus in Strehlow sich zu einem “Hort für Rechte” entwickelt habe.
Um das Haus in freier Trägerschaft überhaupt als Angebot an Kinder und Jugendliche offen halten zu können, habe das Team um Petra Freiberg außerhalb seiner Arbeitszeit Dorffeste und Familienfeiern ausgerichtet, dabei im vergangenen Jahr 200 000 Mark erwirtschaften können. Vor der Gründung des Jugendhauses gab es nach Vorfällen im Jahr 1997 nur eine Stelle aus dem “610-Stellen-Programm” gegen “Gewalt, Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit”, zuständig für die Betreuung in 14 Gemeinden des damaligen Amtsbereiches Gramzow. Die Gründung des Strehlower Vereins war eine Reaktion darauf, um richtig arbeiten zu können: “Wir wollten mit dem Haus den Jugendlichen einen Platz schaffen, wo sie zusammen sein, sich auch anlehnen können. Wir wollen die Menschen sehen in ihrer ganzen Not, die da ist.”
Den Besuchern werden dabei Normen und Werte vermittelt, auf deren Einhaltung sie inzwischen gegenseitig achten. Diese Form der praktizierten Jugendarbeit mit einer Balance zwischen Nähe und Distanz, betont Hülsemann, bedeute nicht, dass es eine alles hinnehmende Jugendarbeit sei.
An oberster Stelle
Bürgermeister Feike erinnerte daran, dass in den Fusionsverhandlungen der Dörfer zur Gemeinde Oberuckersee trotz schwieriger Finanzlage der Erhalt des Jugendhauses in Strehlow immer mit an oberster Stelle stand. Weitere Jugendklubs konnten erhalten werden: “Gegenwärtig stoßen wir an Grenzen, was die Unterstützung der Jugendarbeit betrifft.” Eine Nullrunde soll es dennoch nicht geben: “Die Gemeindevertreter stellen sich klar hinter die Einrichtung in Strehlow. Wenn wir diese nicht erhalten, wird eine Jugendarbeit in unseren Dörfern kaum noch möglich sein.” Dass der Mord an Marinus S., den Hülsemann als “Hinrichtung” bezeichnet, nie vergessen werden darf und zum intensiven Nachdenken zwingt, wie es überhaupt dazu kommen konnte, stellt Petra Freiberg heraus: “Die Tat hätten wir nicht verhindern können. Wir können nicht überall sein und die Tat ungeschehen machen. Aber können wir das Milieu, aus dem die Tat entstand, verhindern?”
Eine von vielen Fragen, über die intensiv nachgedacht werden muss. Nicht nur von Jugendarbeitern, betont Hülsemann, auch in Familien und Schulen: “Jene, die an der Lebenslinie zu Jugendlichen stehen, können nicht die Reparaturbrigade der gesamten Gesellschaft sein.”