NEURUPPIN Rund 1000 Schüler und Lehrer haben gestern Abend in Neuruppin mit einem Demonstrationszug durch die Stadt gegen den Krieg im Irak protestiert. Die Teilnehmer waren mit Zügen und Bussen aus dem gesamten Landkreis Ostprignitz-Ruppin angereist und zogen mit einem Ohren betäubenden Trillerpfeifenkonzert vom Ruppiner Einkaufszentrum aus durch die Juncker- und die Karl-Marx-Straße durch die gesamte Innenstadt.
Der Zug erstreckte sich über mehrere hundert Meter und erregte die Aufmerksamkeit vieler Anwohner: Dutzende Menschen beguckten die bunten Massen von ihren Balkonen, Passanten hielten inne, machten den Demonstranten mit Zurufen oder spontanem Beifall Mut. Von mehreren Polizeifahrzeugen eskortiert, wälzte sich der lautstarke, aber durchweg friedliche Protestzug durch die engen Straßen der Kernstadt. Dutzende Autofahrer mussten an Straßensperren viel Geduld aufbringen.
Bei einer abschließenden Kundgebung auf dem Schulplatz verurteilten Schülersprecher und Lehrer die Politik der amerikanischen Regierung — teils auf das Schärfste. Neben Transparenten mit Aufschriften wie “Leben retten — Bush anketten”, “Kein Krieg für Öl” oder “Krieg für Frieden ist wie Ficken für Jungfräulichkeit” trugen einige Teilnehmer Peace-Zeichen im Gesicht und so ihren Wunsch nach Frieden zur Schau. Johannes vom Friedrich-Ludwig-Jahn-Gymnasium in Kyritz zeigte sich als einer der Veranstalter “überwältigt, dass so viele Leute hier sind”. Dies sei eine klare Botschaft an die Politik der US-Regierung: “Nein zum Krieg, Nein zu Gewalt, Nein zu Unterdrückung”. Zusammen, sagte der Schülersprecher, “sind wir eine Riesen-Hyper-Friedenswaffe”.
Auch Lehrer schlossen sich dem Protest an. Sie sei stolz auf ihre Schüler, sagte eine Kyritzer Pädagogin und fragte: “Wie soll ich meinen Schülern beibringen, dass sie sich an Gesetze halten müssen, wenn Bush und Blair ungestraft Völkerrecht brechen?” R 16
Über den gestrigen Protestzug lag ein Hauch von friedlicher Revolution — Demo im Dämmerlicht
NEURUPPIN Gestern kurz vor 17 Uhr auf dem Parkplatz am Neuruppiner Reiz: Aus allen Richtungen strömen Schülergruppen heran und scharen sich um einen Lautsprecher, der notdürftig auf einem Autodach steht. Im Licht der untergehenden Sonne ruft eine Trommelgruppe zum Protest.
Etwas abseits stehen Karina (19), Christine (16), Gabi (17) und Tina (15). Auf einer Motorhaube haben die Schülerinnen des Neuruppiner Schinkelgymnasiums Bastel-Utensilien ausgebreitet: Mit schwarzem Edding beschriften sie zwei neonfarbene Pappen. “Die haben wir eben schnell noch gekauft”, sagt Karina und drängt ihre Freundinnen zur Eile.
Wenige Minuten später setzt sich ein gewaltiger Demonstrationszug in Bewegung. Die grellen Töne dutzender Pfeifen trillern hinaus in den milden Abend, hallen wider an den grauen Wänden des Neubaugebiets.
Die Ellenbogen auf Kissen gestützt, gucken Anwohner aus ihren Wohnzimmerfenstern. “Lieber wäre es mir”, sagt ein Demonstrant und blickt nach oben, “wenn die alle runterkämen, um dabei zu sein.” Doch an aufmunternden Gesten mangelt es den Protestlern nicht: Passanten bleiben stehen, lächeln, applaudieren.
Hunderte Meter lang wälzt sich der Zug durch Häuserschluchten und verbreitet gellenden Lärm: ein Farbenmeer aus hundert oder mehr Plakaten, Fahnen, Transparenten. Auf allen eine Botschaft: Nein zum Irakkrieg.
Friedliche Stimmung
Autofahrer schalten die Motoren ab, warten geduldig an den Straßensperren und lassen die von Polizeifahrzeugen eskortierten Demonstranten passieren. Die Stimmung ist friedlich, an jeder Straßenbiegung stimmen die Demonstranten neue Sprechchöre an.
Eine Dreiviertelstunde später auf dem Schulplatz: Rund 1000 Menschen scharen sich zur Kundgebung um eine kleine Bühne. Vor rund zwei Wochen hatte Johannes, Schülersprecher des Kyritzer Jahngymnasiums, den Anstoß zur Demo gegeben. Jetzt steht er oben und ringt um Worte. Überwältigt sei er, stammelt Johannes ins Mikro und setzt zur Rede an. Beklagt den Medienkrieg. “Aber sollen wir wegschauen?” Nein. “Nie dürfen wir wegschauen, wenn Menschen leiden.”
Dann erklimmt Malte die Bühne. Aus Lentzke sei er und Schülersprecher des Neuruppiner Schinkelgymnasiums. Applaus. “Die USA meinen, Saddam sei schuld”, sagte Malte, “Saddam meint, die USA seien schuld und die CDU sagt wie immer: Es waren Schröder und die SPD.” Gelächter, Applaus. Die Soldaten seien es, “die sich da draußen die Birnen einschießen”, wird Malte lauter, und: “Ich sach, ey, die haben alle einen IQ von mindestens 90 und sind damit weitaus schlauer als ihr Präsident.” Frenetischer Jubel.
Auch Henning, Sprecher der Rheinsberger Rauschule, findet: “Die zivile Welt hat sich bei der Befriedung des Nahen Ostens nicht gerade mit Ruhm bekleckert.” Allein durch den Krieg, sagt Henning, “hat die zivile Welt verloren”.
Politiker müssten zur Kenntnis nehmen, “dass wir uns hier im Namen des Friedens versammeln”, sagt Johanna vom Evangelischen Gymnasium der Stadt. “Wir sind die Zukunft”, ruft sie der Masse zu, “und ich hoffe, dass wir nicht den gleichen Mist bauen, der jetzt gebaut wird”. Und wieder jubeln die Kriegsgegner. Franziska aus Kyritz rezitiert Erich Kästners Gedicht “Das letzte Kapitel” — die bewegende, 80 Jahre alte Vision einer Giftgas-Apokalypse im Jahr 2003. Es ist gespenstisch still auf dem Schulplatz. Franziska blickt in 1000 betretene Gesichter. “Ich hoffe”, sagt sie dann, “dass Kästner damit nicht Recht hatte”.
Als sich die ersten Mücken gierig auf die Massen stürzen, löst sich die Kundgebung auf. Und laut schallt ein Lied in die Dämmerung hinaus: “All we are saying”, stimmen alle ein: “is give peace a chance.”