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Abschiebung ins Ungewisse

(MAZ, Ker­stin Henseke) BELZIG “Weißt du, wir haben nur ein Prob­lem”, sagt Mio. “Wir sind Roma.” Rom bedeutet “Men­sch”. Schlicht, wahr und ohne Wer­tung. Ein Rom, viele Roma. Ein
Men­sch, viele Men­schen. Abfäl­lig oder roman­tisierend auch “Zige­uner” genan­nt. Ein ver­sprengtes Nomaden­volk ohne Mut­ter­land und Sta­tus, das nur noch vor dem Elend davonzieht, vor einem Leben in Abwertung. 

Mio ist der 24-jährige Sohn von Bra­ho und Sevli­ja Selimovic. 1992 floh das Paar mit acht Kindern vor dem Jugoslaw­ienkrieg nach Deutsch­land. In Titos
Staaten­bund hat­ten viele Roma und Sin­ti, die der Ver­nich­tung in deutschen KZs ent­gan­gen waren, nach 1945 ein Zuhause gefun­den. Als das Staats­ge­bilde 1992 implodierte, kam es vor allem gegen Roma zu bru­tal­en Ausschreitungen.
Der Migranten­strom gen West­en spülte die Selimovics schließlich nach Belzig, wo die Fam­i­lie im Über­gangswohn­heim im Weitz­grun­der Weg lebt. 

Die meis­ten Kinder wuch­sen hier auf, haben kein­er­lei Erin­nerung an ihren Geburt­sort, sprechen nur Romanes und Deutsch, ver­ste­hen kein Wort Ser­bisch. Trotz­dem sollen die Eltern und die drei jüng­sten Kinder Dra­gan (18), Darka
(15) und Sabi­na (13) nun zurück nach Ser­bi­en. Weil die übri­gen Geschwis­ter volljährig sind, haben sie eigene Ver­fahren, deren Beendi­gung nur eine Zeit­frage ist. Grund­schü­lerin Sabi­na ver­ste­ht die Welt nicht mehr. “Ich habe mir viel Mühe gegeben, die deutsche Sprache gut zu ler­nen, weil ich dachte, wir kön­nen hier doch leben.” Sie hat einen Brief an die Aus­län­der­be­hörde des Kreis­es Pots­dam-Mit­tel­mark geschrieben. Darin ste­ht, das sie nachts nicht mehr schlafen kann, sie hier zu Hause fühlt, hier bleiben möchte, weil es “da drüben” keine Zukun­ft für sie gibt. Alle Lehrer und Mitschüler der
Geschwis­ter-Scholl-Grund­schule haben unter­schrieben. “Das Mäd­chen war
psy­chisch total fer­tig, das habe ich noch nie erlebt”, sagt Schullei­t­erin Bar­bara Schnei-der und bescheinigt Sabi­na ein streb­sames, aufgeschlossenes Wesen. Dass die Schulkinder ihre Fre­undin dabehal­ten wollen, ver­ste­ht Jörg Hallex, bucht das Ganze aber unter “Unken­nt­nis der Recht­slage” ab. Als
Sachge­bi­et­sleit­er der Aus­län­der­be­hörde muss er die “Beendi­gung des Aufen­thalts”, wie es im Amts­deutsch heißt, durch­set­zen. Bere­its 1994 — noch mit­ten im Bürg­erkrieg — wurde der Asy­lantrag der Selimovics abgelehnt. Seit
1997 sind sie endgültig aus­reisepflichtig. Ziel ist Ser­bi­en und Mon­tene­gro, eine Region, vor der sämtliche Men­schen­recht­sor­gan­i­sa­tio­nen war­nen. Nach ihren Bericht­en sind die Lebensver­hält­nisse der etwa 750 000 Roma
schlichtweg katas­trophal. Das Land ist bere­its mit etwa 700 000 ser­bis­chen Bin­nen­flüchtlin­gen aus Kroa­t­ien, Bosnien und dem Koso­vo über­fordert, von denen noch immer viele in Auf­fanglagern leben. Von den Roma, die mit der
Abschiebung in ein zweites Flüchtlings­da­sein ger­at­en wür­den, ganz zu schweigen. 90 Prozent leben nach Angaben der “Gesellschaft für bedro­hte Völk­er” (gfbv) in herun­tergekomme­nen Barack­en­vierteln ohne Wass­er und Strom, “Elend­skrankheit­en” steigerten die Kinder­sterblichkeit um 60 Prozent gegenüber ser­bis­chen Kindern. Drei Prozent haben eine bezahlte Arbeit. Behördliche und polizeiliche Willkür, ras­sis­tis­che Über­griffe sind an der Tage­sor­d­nung, deren Opfer erschreck­end häu­fig Kinder sind, wie die gfbv meldet. Doch die Ver­hält­nisse vor Ort sind kein Rück­führung­shin­der­nis, wie Jörg Hallex bestätigt. “Dafür ist die jugoslaw­is­che Seite selb­st zuständig, das kön­nen wir nicht kontrollieren.” 

Im April 2002 beauf­tragte das Berlin­er Abge­ord­neten­haus den Sen­at, sich bun­desweit für ein Bleiberecht für Roma und Sin­ti einzuset­zen: weil es “ihre Exis­ten­zver­nich­tung bedeuten” würde und als his­torische Wiedergut­machung. 500 000 Roma und Sin­ti wur­den in deutschen KZs ermordet.

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