Berliner Zeitung
RATHENOW. Der Andrang vor dem Amtsgericht in Rathenow war groß. 60
Asylbewerber und Sympathisanten hatten sich am Donnerstag vor dem Gebäude
versammelt, um zwei der Ihren zu unterstützten. Mohamad M. und Mohammed A.
müssen sich vor Gericht wegen übler Nachrede verantworten. Sie hatten im
Sommer 2002 im Asylbewerberheim der Stadt Unterschriften für einen
Protestbrief gegen die aus ihrer Sicht unhaltbaren Lebensbedingungen im Heim
gesammelt. Ihr schwerster Vorwurf: Ausgerechnet Neonazis würden ein
Asylbewerberheim bewachen, viele der etwa 300 Bewohner würden regelmäßig
schikaniert. Die Arbeiterwohlfahrt (AWO), die das Heim betreibt, erstattete
daraufhin Anzeige — die beiden Asylbewerber hätten nicht nur die Unwahrheit
behauptet, sondern angeblich sogar Unterschriften unter Vorspiegelung
falscher Tatsachen erschlichen oder gar gefälscht.
Der erste Prozesstag war nach wenigen Minuten zu Ende. Richterin Uta Werner
wollte das Verfahren einstellen — wegen Geringfügigkeit der Schuld und um
einen langen Prozess zu vermeiden. Der Staatsanwalt war dazu nur bereit,
wenn gegen die Angeklagten Auflagen verhängt werden — gemeinnützige Arbeit
oder Geldbußen, zu zahlen an eine karitative Organisation.
“Das konnten und wollten die Angeklagten nicht akzeptieren. Sie sind
unschuldig”, sagte Ulrich von Klinggräff, einer der Verteidiger. “Die
Vorwürfe der AWO gegen sie sind ungeheuerlich. Mit unseren Zeugen können wir
nachweisen, dass alle Behauptungen im offenen Brief zutreffen.” Es sei
belegbar, dass private Post der Asylbewerber unerlaubt geöffnet und mit
Zweitschlüsseln in die Zimmer der Bewohner eingedrungen wurde. Nun wollten
die Angeklagten im Prozess den “Wahrheitsbeweis ihrer Vorwürfe” erbringen
und zugleich die menschenunwürdigen Lebensverhältnisse in dem Heim
öffentlich machen.
Die beiden Angeklagten werden in dem Prozess auch immer wieder das Thema
Wachschutz durch Neonazis ansprechen. Gerade weil die Staatsanwaltschaft
diesen Anklagepunkt inzwischen fallen gelassen hat. Denn selbst der
Verfassungsschutz hatte diesen Missstand im Wohnheim bemängelt. In einer
Aktennotiz heißt es, dass vier Männer der Wachschutzfirma Zarnikow damals
tatsächlich dem “Kern der rechtsextremistischen Szene” von Rathenow
angehörten und der Neonazi-Gruppierung “Kameradschaft Hauptvolk” zugerechnet
werden müssten. Das Innenministerium soll damals das zuständige
Sozialministerium informiert haben. Doch das erhielt eine Entwarnung von der
Kreisverwaltung Havelland: Nur ein Firmenmitarbeiter habe früher zur
rechtsextremen Szene gehört, gelte aber als “resozialisiert”. Dennoch
bewacht inzwischen eine andere Firma das Heim.
Der Prozess ist vorläufiger Höhepunkt im Streit um das Rathenower
Asylbewerberheim und die Lage seiner Bewohner. In den vergangenen Jahren
hatte es wiederholt gewalttätige Übergriffe gegen Ausländer in der Stadt
gegeben. Die Asylbewerber hatten immer wieder protestiert, weil sie sich in
der Stadt und im Heim nicht sicher fühlen. In einem Aufsehen erregenden
Memorandum hatten sie aus Angst vor Übergriffen im Februar 2000 sogar ihre
Verlegung in andere Bundesländer gefordert. Doch die offiziellen Stellen
kamen bei ihren Untersuchungen stets zu dem Ergebnis, dass die
Schikane-Vorwürfe haltlos sind und keine Rechtsverstöße im Heim
festzustellen seien.
Elisabeth H. aus Kamerun ist zur Unterstützung der Angeklagten ins Gericht
gekommen. “Wir wollen hier wie Menschen behandelt werden und nicht
angeklagt, wenn wir Missstände ansprechen”, sagte sie.
MAZ
RATHENOW Der Prozess gegen zwei Asylbewerber vor dem Rathenower Amtsgericht
ist gestern Mittag auf einen späteren Zeitpunkt vertagt worden. Unmittelbar
vor Prozessbeginn war die vorsitzende Richterin mit dem Versuch gescheitert,
das Verfahren einzustellen. Der Staatsanwalt wollte einer Einstellung nur
unter Auflagen zustimmen. Die Angeklagten beharrten auf einer Einstellung
ohne Auflagen.
Die Staatsanwaltschaft hatte gegen den 27-jährigen Abdel A. und den
33-jährigen Mahmoud M. Anklage wegen übler Nachrede erhoben. Die Anklage
folgte einer Anzeige gegen Unbekannt, die im Sommer 2002 vom Kreisverband
der Arbeiterwohlfahrt, der das Asylbewerberheim im Rathenower Birkenweg
betreibt, erhoben worden war. Mit der Klage hatte die Awo auf einen offenen
Brief reagiert, in dem die Asylbewerber wenige Tage zuvor die Leitung des
Heimes scharf angegriffen hatten.
Die Verfasser des Briefes — damals wohnten beide im Heim — warfen der
Heimleitung schwere Verletzungen der Privatsphäre vor. Rund um die Uhr werde
das Gebäude von Kameras überwacht, Briefe würden vor der Aushändigung an die
Empfänger geöffnet, Zimmer ohne Ankündigung betreten. Außerdem seien in der
Firma, die das Heim bewache, Mitarbeiter aus der rechten Szene beschäftigt.
Ralf Schröder, Geschäftsführer des Awo-Kreisverbandes, hatte die Vorwürfe
scharf zurückgewiesen und Anzeige wegen Verleumdung und übler Nachrede
erstattet. Allerdings entzog er im Dezember 2002 der Wachschutzfirma den
Auftrag, nachdem das Nachrichtenmagazin Focus ein Papier des
Verfassungsschutzes publik gemacht hatte, demzufolge vier Mitarbeiter des
Wachdienstes der rechten “Kameradschaft Hauptvolk” zuzurechnen seien.
Die vorsitzende Richterin kündigte in dem von diversen Medienvertretern
begleiteten Prozessauftakt an, dass die Verhandlung sich aller Voraussicht
nach über mehrere Tage erstrecken werde, weil eine Vielzahl von Zeugen
gehört werden müsse. Mit der vorgeschlagenen Einstellung des Verfahrens habe
das Gericht versucht, einen langen Prozess zu verkürzen.
Der Angeklagte Abdel A. erklärte nach der Vertagung der Verhandlung
gegenüber der MAZ, dass für ihn nur eine Einstellung des Prozesses ohne
Auflagen in Frage gekommen wäre. Alles andere hätte wie ein
Schuldeingeständnis gewirkt, und ein solches werde er nicht geben.
Abdel A. machte nach der Verhandlung außerdem klar, dass die Öffentlichkeit,
die mit einem solchen Prozess hergestellt werde, nützlich sei, um auf die
mangelhafte rechtliche Lage von Asylbewerbern in Deutschland und in Rathenow
aufmerksam zu machen.