(Berliner Zeitung) COTTBUS. Polizisten stehen auf der Cottbuser Stadthalle und filmen das Volk, das zum Wahlkampfauftakt der CDU erschienen ist. An die 2 000 Menschen sind gekommen. Absperrgitter sichern die Bühne. Unmittelbar davor hat sich die Junge Union mit ihren Angie-Plakaten postiert. Doch vor ihnen ballt sich der Volkszorn zusammen.
Die Aktivisten der Arbeitslosen-Initiative aus Senftenberg haben T‑Shirts mit der Aufschrift “Die Überflüssigen” übergestreift und begrüßen CDU-Kanzlerkandidatin Angela Merkel und Unions-Landeschef Jörg Schönbohm mit einem Pfeifkonzert. “Wir wollen keinen Kapitalismus pur”, ruft der arbeitslose Installateur André Wendlandt. Ein Stück weiter schreit ein betrunkener Mann im T‑Shirt mit DDR-Emblem: “Hartz IV für Stoiber.” Cottbuser Jungsozialisten halten ein Transparent hoch: “Keine Stimme aus dem Osten für die CDU/CSU.”
Und dann sind da auch die jungen Rechtsradikalen mit dem vollgekritzelten Bettlaken: “Das System hat keinen Fehler, das System ist der Fehler.” Auf dem Kapuzen-Shirt des kahlköpfigen Mannes, der das Laken hält, steht: “Old School Racist” — Rassist alter Schule heißt das.
Alle zusammen schreien sie Jörg Schönbohm nieder, als der das Wort ergreift. Seine jüngsten Äußerungen über die Verrohung der Ostdeutschen kleben an ihm, auch in Cottbus. “Wir sind die Partei der deutschen Einheit”, ruft er tapfer. Er greift Schröder, Lafontaine und Gysi an, die das gemeinsame Deutschland doch nie gewollt hätten.
“Brandenburg, das ist meine Heimat”, bekennt Angela Merkel. Später sagt sie noch: “Die Brandenburger sind auch nicht dümmer als die Sachsen. Und die Sachsen machen in zwölf Jahren schon heute ein besseres Abitur als die Baden-Württemberger nach dreizehn Jahren.” Die Aufregung um die Stoiber-Äußerungen kommentiert sie nicht. Sie sagt nur: “Wenn ich recht informiert bin, kann man nur in Bayern CSU wählen.” Die Menge hinter der Absperrung wird ruhiger. Doch immer, wenn Merkel heikle Themen anspricht, erntet sie Unmut — Mehrwertsteuererhöhung, Ablehnung eines bundesweit einheitlichen Arbeitslosengeldes II, selbst die Erwähnung ihres Besuchs in Polen. Sogar einige mit Wasser gefüllte Luftballons fliegen in Richtung Bühne. “Pfeifen löst die Probleme Deutschlands nicht”, ruft Merkel und fügt hinzu: “Ich würde Ihnen auch gerne sagen, ich erhöhe das Kindergeld. Aber das wäre nicht redlich.” Und sie sagt, dass westdeutsche Regionen wie Gelsenkirchen und Flensburg genauso von Arbeitslosigkeit gebeutelt sind wie strukturschwache Regionen im Osten. Deshalb sollte man die ALG-II-Zahlungen nach der wirtschaftlichen Lage der Regionen bemessen.
Als zum Abschluss der Kundgebung der örtliche Bundestagskandidat das Deutschland-Lied ankündigt, stimmen Gegendemonstranten die DDR-Nationalhymne an. “Auferstanden aus Ruinen”, dann erklingt das Lied der Deutschen vom Band. Zum Abschied wird der Rolling-Stones-Klassiker “Angie” aufgelegt. Er handelt von einer sterbenden Liebe und von einer Frau mit Traurigkeit in ihren Augen.
Kein Heimspiel für Angela Merkel
Beim CDU-Wahlkampfauftakt gab es viele Pfiffe für die Kanzlerkandidatin – und noch mehr für Schönbohm
(Tagesspiegel) Cottbus – CDU-Kanzlerkandidatin Angela Merkel hat die Reformfähigkeit der Ostdeutschen hervorgehoben, die in den letzten Jahren große Umbrüche bewältigt hätten. „Gerade wir brauchen keine Angst vor den kommenden Veränderungen haben“, sagte Merkel am Dienstagabend beim Wahlkampfauftakt der Brandenburger CDU in Cottbus vor rund 2000 Zuhörern – deutlich mehr als erwartet. „Und die alten Länder müssen begreifen, dass es ihnen nur gut geht, wenn es den neuen Ländern gut geht.“
Die Cottbuser Kundgebung wurde immer wieder von Pfiffen begleitet – wegen der Ostdeutschen-Schelte von CSU-Chef Stoiber, aber auch wegen der „Verproletarisierungs“-Äußerungen von CDU-Landeschef und Innenminister Jörg Schönbohm. Allerdings fielen die Proteste geringer aus als in der CDU befürchtet. Zwar schlugen Merkel deutliche Skepsis und Unmut entgegen. Aber es flogen keine Eier in Cottbus und Krawalle blieben aus. Kein Vergleich zur Aggressivität, die Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) zunächst entgegenschlug, als er im Landtagswahlkampf 2004 auf den Marktplätzen „Hartz IV“ und andere unpopuläre Reformen der rot-grünen Bundesregierung verteidigte.
CDU-Politiker registrierten aufmerksam den nur kurzen und eher ruhigen Auftritt Schönbohms. Der sprach erstmals seit seinen umstrittenen „Verproletarisierungs-Thesen“ vor einer größeren Menge in Brandenburg, attackierte Rot-Grün und hob die Union als „Partei der Einheit“ hervor. Das gellende Pfeifkonzert, das ihn begleitete, fiel deutlich heftiger aus als bei Merkel, die während ihrer Rede zunehmend Nachdenklichkeit auslöste.
Die CDU-Chefin gab Fehler der Kohl-Regierung nach der Wende zu – und warb eindringlich für unpopuläre Unionspläne wie die Erhöhung der Mehrwertsteuer zur Reform Deutschlands. „Ich würde Ihnen auch gern mehr Kindergeld versprechen. Aber das wäre nicht redlich.“ Zugleich verteidigte die CDU-Chefin, dass die Union das bislang in Ost und West unterschiedliche Arbeitslosengeld II nicht angleichen will: Ziel sei eine Regionalisierung, also eine Höhe im Ermessen der Länder.
Unter Verweis auf ihre Herkunft ging Merkel auch auf die Situation in Brandenburg ein – am Beispiel des Bildungssystems. Es sei kein Zufall, dass es dem seit 1990 CDU-regierten Nachbarland Sachsen gelungen sei, jetzt fast Bayern bei der PISA-Studie zu überholen. Sachsen sei, trotz kurzer Schulzeit bis zum Abitur, bereits besser als Baden-Württemberg. Zwar gehe es seit der CDU-Regierungsbeteiligung auch in Brandenburg aufwärts. Trotzdem habe das Land da „vieles verpennt“.
Organisierte Gegendemonstranten kamen von der Gewerkschaft Verdi und von der Cottbuser Initiative für Montagsdemos. Beobachtern fiel auf, dass die Linkspartei nicht erkennbar auftrat. Dafür kam das mit Abstand größte Protestplakat von der örtlichen SPD: „Wir sind die frustrierten Proleten Ostdeutschlands. Schröder wählen.“ Schönbohm sagte dazu, die Union werde sich nicht auf dieses Niveau begeben und etwa Auftritte von Gerhard Schröder in Brandenburg stören.
Wahlkampf mit Angela Merkel: 1500 CDU-Anhänger vor der Stadthalle
(Dieter Salzmann, Berliner Morgenpost) Cottbus — Die buschigen Augenbrauen von Jörg Schönbohm standen noch dichter beieinander als gewöhnlich. Fast schienen sie ineinander überzugehen. Es mag an der Abendsonne gelegen haben, die dem CDU-Landeschef ins Gesicht schien oder an den sorgenvollen Gedanken, die ihn womöglich umtreiben. Stand ihm doch auf dem Platz vor der Cottbuser Stadthalle der bislang größte öffentliche Auftritt nach seiner Äußerung über die “Zwangsproletarisierung” der Menschen im Osten durch die SED bevor.
Gemeinsam mit Kanzlerkandidatin Angela Merkel läutete Schönbohm in der zweitgrößten Stadt Brandenburgs die heiße Phase des Bundestagswahlkampfes ein. 1500 Teilnehmer, größtenteils CDU-Anhänger und ein paar hundert Protestler, die hinter der Absperrung blieben, waren gekommen.
Cottbus war keine ungefähre Wahl. Im Süden des Landes ist die CDU traditionell stark, dort hat sie die größten Chancen, die prestigeträchtigen Direktmandate zu holen. Im jetzigen Bundestag ist die märkische Union mit vier Abgeordneten präsent, Ziel de
r Partei ist es, ein oder zwei Mandate mehr zu holen.
Wer erwartet hatte, der CDU-Landeschef oder gar Angela Merkel gingen auf die Äußerungen Schönbohms und die Debatte, die sie ausgelöst hatten, ein, wurde enttäuscht. Merkel hielt ihre 45 Minuten lange Standardrede, wie sie sie tags zuvor in Sachsen und Sachsen-Anhalt gehalten hatte. Stoiber blieb ungenannt, ebenso wenig fiel eine Bemerkung zu dessen Querschüssen. Sie redete von Wirtschaftswachstum und Mittelstand, Arbeitslosigkeit, Kombi-Lohn und Mehrwertsteuererhöhung. Merkel spricht die Sprache der Ostdeutschen: Wenn sie das Ingenieurwesen erwähnt, dann weiß in Cottbus jeder, was sie meint, dann springt der Funke über.
Schönbohm streifte das Thema “Menschen in der DDR” mit der Bemerkung, er “danke allen, die 1989 auf die Straße gegangen sind, sonst wären wir heute nicht hier.”
Er hatte einen schweren Stand. Sichtlich nervös und mit finsterer Miene kämpfte er sich durch seine Rede und steckte Buh-Rufe und Pfiffe ein, etwa wenn er sagte, die “CDU ist die Partei der Einheit.” Und von hochrangigen CDU-Mitgliedern, darauf angesprochen, ob Schönbohm am 19. September, dem Tag nach der Bundestagswahl, als CDU-Landeschef zurücktritt, hört man nur “das haben Sie gesagt” — und kein Dementi.