PREMNITZ Für einen wie Mathias, den 19-Jährigen, den Brillenoptikschleifer, der — wenn er leise “Ich schleife ja bloß die Gläser” sagt — mit seinen Worten zaghaft umgeht wie mit feinem Glas, ist es nicht einfach, in Premnitz zu leben, zu überleben.
“Im Traum”, sagt Mathias, sei er “noch nicht gestorben”. Das wolle er auch nicht. Aber was heißt das schon: “Das will ich auch nicht.” Nachts mit 120 Sachen durch Premnitz rasen, das will er auch nicht — und hat es getan. “Solange, bis ich in Sicherheit war” auf dem Parkplatz vor dem Jugendclub. “Da hauen sie wieder ab.” Sie, das sind “die Glatzen”, die “uns dicht auffahren”, Stoßstange, Lichthupe, an Stoßstange. “Die wollten uns zum Anhalten zwingen. Aber da hält man nicht an”, sagt der Brillenoptikschleifer.
Oder: Dass er gewürgt wurde vor zwei Jahren vor dem Dixi vor allen Leuten. Nein, gewollt hat er auch das nicht. “Da waren zwei, die haben mir das Badetuch um den Hals geschlungen und immer weiter zugedreht.” Und die Leute? “Sind alle vorbei, haben kurz hingeguckt und sind weiter.”
Manchmal in seinen Träumen betritt Mathias aus Premnitz im Havelland ein Kaufhaus und wandelt durch die Gänge an hohen Regalen vorbei. Der Traum kehrt ähnlich immer wieder: Schläger mit kurzen Haaren und Keulen springen hervor und versperren den Weg, und Mathias erlebt im Traum die Angst, “dass die auch im Kaufhaus abdrehen”. “Keiner hilft, und die kommen immer wieder ungeschoren davon.” Wie vor zwei Jahren, nur dass es kein Traum damals war.
Der 4. Februar 2000 war ein Freitag. Die Abende am Wochenende sind in Premnitz und Rathenow besonders gefährlich für alle, die anders sind, die eine dunklere Haut oder eine linke politische Gesinnung haben, wie Mathias. Für die vergangenen zwei Jahre hat der Verein “Opferperspektive” 23 Vorfälle aufgelistet, bei denen rechtsextreme Täter 14 Menschen überfielen.
Mit der Keule auf den Kopf
Für die Polizei zählen Premnitz und Rathenow längst zu den Schwerpunkten rechtsextremer Gewalt in Brandenburg. Dutzende Beamte sind an den Wochenenden in den Nachbarstädten im Einsatz. Vor einem Jahr wurde eine zusätzliche, neu gegründete Polizeitruppe gegen rechtsextreme Gewalt, die Tomeg, eingerichtet. Doch am 4. Februar 2000, als Mathias “mit zwei, drei Kumpels” kurz vor Mitternacht über die Friedensstraße ging, war das Aufgebot der Polizei noch nicht so groß in Premnitz.
Thomas K., nicht groß, nicht kräftig, ein Allerweltstyp, war nicht allein. “Er war mit etwa 15 Kumpels da”, erinnert sich Mathias. Thomas K. schlug ihm mit einer Keule einmal auf den Kopf. “Ich bin nicht zusammengesackt, aber ich hatte Kopfschmerzen”, sagt Mathias hastig. Eine Anzeige bei der Polizei erstattete er zehn Tage später, er weiß auch nicht mehr, warum so spät. Das Verfahren gegen Thomas K. wurde eingestellt, “wegen geringer Schuld” und “weil das genaue Geschehen nicht geklärt werden konnte”, berichtet die Sprecherin der Potsdamer Staatsanwaltschaft, Sigrid Komor. Die Angaben aus den beiden gegnerischen Gruppen seien zu unterschiedlich gewesen.
Kürzlich am Penny-Markt, strahlte, den Kopf “schön spiegelglatt”, “Fuzzy”, so wird er in Premnitz genannt, Mathias an. “Er fing sofort an zu lachen, er wusste Bescheid”, meint Mathias. Auf den “Sufforgien”, so habe er gehört, würden die jungen Rechtsextremen mit ihren “Heldentaten” prahlen. Der “Held” der jüngsten Tat hieß wieder, wie im Februar 2000, Thomas K.
In der Neujahrsnacht gingen Mathias und sein Bekannter Sven durch Premnitz spazieren. Plötzlich stürmten vier junge Neonazis auf sie zu, Thomas K. schlug Mathias von hinten mit einer Keule auf den Schädel, er “sackte gleich zusammen”. Sie traten ihm in die Rippen, ins Gesicht, die Holzkeule zerbrach unter der Wucht der Schläge.
Nach drei Minuten war alles vorbei. Mathias blutete. “Ich konnte nicht sprechen, habe den Mund nicht mehr aufgekriegt”, sagt er. Sie riefen den Notarzt, am nächsten Tag zeigten sie Thomas K. und die drei anderen an.
Die vier Schläger berufen sich seither auf ihr Aussageverweigerungsrecht und schweigen. Mathias fällt das Warten jedoch schwer. Er befürchtet, dass der Prozess erst in zwei Jahren beginnt. Dann sei die genaue Erinnerung verblasst, so dass den vier Schlägern die Schuld möglicherweise nicht mehr nachzuweisen sei. Und dann, sagt er, kommen die “wieder ungeschoren davon”.
Manchmal lächelt Mathias schon wieder, doch dieses Lächeln ist wie auf der Flucht. “Ich habe Angst, wenn ich rausgehe”, sagt er, „aber ich muss ja zur Arbeit und zur Schule.” Er lasse sich “jetzt immer abholen, chauffieren”, und er “versuche, ruhig zu bleiben”, aber die Angst sei da, “dass es wieder passiert”.
Froh über den Wegzug
Sven sagt, er sei froh, dass er nicht mehr in Premnitz lebe, und auch Mathias erwägt nun ernsthaft fortzuziehen.
Der einzige Schwarzafrikaner in Premnitz, Sidikie Coker aus Sierra Leone, der im Mai 2001 zusammengeschlagen wurde, hat sich kürzlich seinen Traum von einem unbeschwerten Leben verwirklicht und ist mit seiner Frau Manuela und den drei Kindern nach Berlin umzogen.
Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) versicherte kürzlich, es gebe in Brandenburg keine “national befreiten Zonen”. Falls doch, möge man sie ihm zeigen.