Gabriel Landgraf, 29, war ein Anführer, ein sogenannter Kader, der Neo-Nazi-Szene in Berlin und Brandenburg. Im haGalil-Interview nach der öffentlichen Bekanntgabe seines Ausstieges berichtet er, wie ein junger Mensch in die Nazi-Szene kommt und warum er schließlich ausgestiegen ist. Nicht überraschen sollte uns, dass der Antisemitismus auch heute das wichtigste Fundament der Nazi-Ideologie ist und dass Nazi-Szene und radikale Islamisten kooperieren.
Sie gehörten zu den führenden Kadern der neo-nazistischen “Kameradschaften” in Berlin. Zwischenzeitlich haben Sie ihren Ausstieg aus der Nazi-Szene öffentlich bekannt gemacht. Wann und warum sind Sie ausgestiegen?
Der endgültige Bruch war für mich im Sommer 2005 vollzogen. Doch ein Ausstieg ist ein langer Weg. Die ersten Schritte meines Ausstiegs waren die Kontaktabbrüche zum rechten Lager. Das ist gar nicht so einfach, denn ich hatte 13 Jahre lang immer wieder Berührungspunkte zur rechten Szene, davon sechs Jahre in organisierten rechten Gruppen. Wie schwierig es ist, diese Kontakte abzubrechen, versteht man nur, wenn man begreift, dass die Nazis stets darauf aus sind Menschen vollständig einzunehmen, politisch und sozial.
Ich habe innerhalb von ein paar Wochen sämtliche Aktivitäten eingestellt, das “Berliner Infoportal” abgestellt, bin aus dem MHS (Märkischer Heimatschutz) ausgetreten und habe einen Berlin-Brandenburg weiten SMS Verteiler abgemeldet. Zugleich habe ich auch dafür gesorgt, dass diese Projekte auch von anderen nicht weitergeführt werden können.
Ein Ausstieg ist aber mehr als nur die Loslösung von rechten Strukturen oder die öffentliche Positionierung gegen die früheren “Kameradschaften”. Dies sind nur Resultate; die eigentlichen Beweggründe haben sich bei mir schon lange angesammelt.
Was war Ihre Motivation?
Es gibt nicht den Hauptgrund oder das entschiedene Erlebnis in meinem Leben für den Ausstieg. Da muss ich leider enttäuschen.
Es waren zahlreiche Widersprüche, mit denen ich lange zu kämpfen hatte, die ich irgendwann nicht mehr verdrängen konnte.
Ich propagierte die Rückführung der Ausländer, in der Propaganda sprachen wir immer von “kriminellen Ausländern”, doch was heißt das in der Konsequenz? Menschen, die in Deutschland geboren sind, in Länder zu schicken, in denen sie kein Wort verstehen?
Gleichzeitig kämpfte ich bei den Kameradschaften gegen staatliche Unterdrückung, soziale Probleme und für Freiheit. Doch welche Antworten haben sich mir geboten?
Auch die Kameradschaftsszene ist hierarchisch durchstrukturiert und meine persönliche Freiheit hat sehr darunter gelitten.
Natürlich habe ich mir auch Gedanken über meine Gewalttaten und das Warum gemacht, ich konnte es nicht mehr verdrängen und es hat mich unglaublich belastet. Ich kann mir heute immer noch nicht die Frage beantworten, wie ich anderen Menschen so etwas antun konnte.
Ausschlaggebend für meinen endgültigen Bruch waren aber sicherlich Personen, die sich kritisch mit mir auseinandergesetzt haben, mir meine Denkfehler und moralische Verantwortung aufgezeigt haben.
Ihre ehemaligen “Kameraden” bezichtigen Sie nun des politischen Verrats und bezeichnen Sie als “offenbar nicht resozialisierbaren Kriminellen”. Haben Sie Angst vor Rachefeldzügen aufgrund Ihres Ausstiegs?
Auf der Ebene der geistigen Auseinandersetzung habe ich keine Angst vor den Leuten. Die Kampagne gegen mich, wie sie vor allem im Internet gefahren wird, ist was das Intellektuelle und das Ideologische betrifft ziemlich lächerlich. Angst habe ich vor Gewalt.
In dieser Szene wird schnell vom “Verrat” gesprochen. Klar dass ich von den Neonazis keine Gruß- und Dankesbotschaften bekomme. Die Methoden sind stets gleich: Man wird zum Alkoholiker, zum Versager und als unbedeutender Mensch abgestempelt. Wie sonst sollten Neonazis mit Aussteigern umgehen?
Beruhigend ist es für mich, dass ich weiß, welche Personen hinter diesen Internetkampagnen stehen.
Seit dem Jahr 2000 bemühten Sie sich um die Vernetzung unterschiedlicher Neonazi-Gruppen im Raum Berlin-Brandenburg, Sie betrieben das neofaschistische Internetportal “Berliner Infoportal” und waren im Jahr 2003 Mitbegründer der Neonazi-Kameradschaft “Berliner Alternative Südost” (BASO). Im Jahr 2004 gründeten Sie zudem eine Berliner Unterabteilung des “Märkischen Heimatschutzes” (MHS). Worin bestanden die Hauptaktivitäten dieser Gruppen?
Die Gründung der BASO war ein Prozess, der ein dreiviertel Jahr dauerte. Zu dem Zeitpunkt war die Berliner Kameradschaftszene fast tot, eigentlich existierte als politische Gruppe nur die Kameradschaft Thor. Es setzten sich einige Personen zusammen um ein Widererstarken der Freien Kameradschaftsszene zu planen.
Da viele Mitgründer der BASO sich im Südosten Berlins bewegten und es ein großes rechtes Klientel in Treptow-Köpenick gab, beschlossen wir den Aktionskreis auf diesen Stadtteil zu beschränken.
Es war wichtig einen Namen zu wählen, der nicht sofort von den Medien und in der Öffentlichkeit als rechts zu erkennen war.
So wurde bewusst versucht nach außen sich das nette Image zu geben. Wir haben uns schnell auf die Jugendarbeit konzentriert, was dann meiner Einschätzung nach erschreckend gut funktioniert hat. Ich kam mir manchmal vor wie ein Sozialarbeiter, der von Kinobesuchen bis hin zu Fußballspielen sich mit Jugendlichen beschäftigt hat. Das Leitmotto der BASO war: “Ihr redet, wir handeln.”
Andererseits haben wir auch damals Bürgersprechstunden und Veranstaltungen besucht.
Die BASO hatte sich zum Ziel gesetzt, eine nationale Jugendkultur zu schaffen, welche von symbolischen Hausbesetzungen und der Erkämpfung eines nationalen Jugendzentrums bis hin zu traditionellen NS Verherrlichungen wie bei den Horst-Wessel- und Rudolf-Hesswochen reichte.
Das Aufblühen der Kameradschaftsszene hatte begonnen. Die Zusammenarbeit mit der Kameradschaft Thor sowie aber auch mit Brandenburger Kameradschaften wurde gepflegt. Gerade die Kontakte zu Gordon Reinholz waren intensiv.
Um nicht nur eine symbolische Zusammenarbeit zwischen der Kameradschaftsszene Berlin-Brandenburgs zu haben, kam ich auf die Idee die Sektion Berlin zu gründen. Die Arbeit des MHS war offen politischer und die Verbindungen des MHS reichten weit über die Grenzen Berlin-Brandenburgs hinaus. Auch steckte einfach viel mehr Geld dahinter. Die offene hierarchische Strukturierung des MHS unterschied sich schon sehr von der BASO.
Während der “MHS” noch immer existiert wurde die “BASO” im März 2005 von Berlins Innensenator Erhart Körting (SPD) verboten. Hat das Verbot überhaupt etwas bewirkt? Wer verbirgt sich hinter den so genannten “Freien Kräften Berlin”?
Am Anfang bewirkte das Verbot sicherlich eine Verunsicherung bei den Mitgliedern. Ich kann mich an den ersten Tag nach der Hausdurchsuchung erinnern, wo wir uns ganz heimlich auf Autobahnraststätten mit dem NPD-Kader Thomas “Steiner” Wulff getroffen haben und den Beschluss gefasst haben, gegen das Verbot zu klagen. Zum Zeitpunkt des Verbots war ich schon im MHS und Sektionsleiter von Berlin. Viele Mitglieder der BASO schlossen sich der NPD-Jugendorganisation Jungen Nationaldemokraten (JN) an oder wurden in den MHS Berlin integriert. Gleichfalls wurde darauf geachtet, nicht wegen einer Weiterführung der Organisationen vorbestraft zu werden.
Letztlich hat das Verbot keine Schwächung der Szene in Berlin bewirkt, sondern eine Umstrukturierung.
Bei der Kameradschaft Thor bestätigte sich teilweise die Verbotsverfügung und man gab sich kämpferischer. Dies mag sicherlich an dem sehr unterschiedlichen Politik- und Organisationsverständnis der KS Thor liegen. Doch dazu werde ich in Kürze einen Artikel veröffentlichen.
Nach den Verboten g
ab es ein Treffen in der NPD-Parteizentrale, da große Unsicherheit in der Kameradschaftsszene herrschte. Es gab die Option unter dem dach der NPD politisch zu arbeiten, was aber zum Teil auf Ablehnung stieß.
Man einigte sich darauf, neue Namen und Begriffe zu benutzen, die es dem Staatsschutz und der Antifa schwerer machen sollten.
Durchgesetzt hat sich dann die Bezeichnung “Freie Kräfte Berlin”, hinter der im Wesentlichen die Kameradschaft Tor steckt.
Was ist konkret zu tun, um der Propaganda der militanten “Kameradschaften” etwas entgegen zu setzen und ihr Wirken effektiv zu behindern?
Auch hier kann ich keinen Königspfad bieten. Zunächst Rechtsextremismus als ernsthaftes Problem wahrnehmen und benennen und von Anfang klarstellen, welches Geistes Kind dahinter steckt. Es muss eine Aufklärung geleistet werden, die sich nicht klischeehafter Bilder bedient und nur effekthascherisch berichtet.
Rechtsextreme Überfälle wie in Potsdam sind keine Einzeltaten, sondern passieren tagtäglich. Das Opfer des rechten Angriffs aus Potsdam ist vielleicht schon in zwei Tagen nicht mehr Thema in der Presse, doch seine körperlichen und seelischen Wunden werden nicht vergessen sein.
Wichtig ist es hier, dass bundesweit Initiativen und Vereine finanziert werden, die Opfer beraten und sich langfristig gegen Rechtsextremismus engagieren.
Aber es ist ebenso wichtig, dass es Aussteigerhilfen gibt, die sich ideologisch mit Aussteigern beschäftigen, ohne staatlichen Behörden ausgesetzt zu sein. Es werden professionelle und seriöse Berater benötigt, die sich mit Ausstiegswilligen politisch und sozial beschäftigen, denn nicht jeder kann das Glück haben, auf bestimmte Personen zu treffen.
Lassen Sie uns zum “Anfang” zurück kommen.
Wie wird ein junger Mensch zu einem Neo-Nazi?
Ich kann hier nur für mich sprechen.
Wie jeder Jugendlicher war ich in einem ständigen Findungsprozess, der zwischen Anderssein, Provokation und Rebellion schwankte und vor allen Dingen habe ich immer etwas Anderes, Neues gesucht. In meinem früheren Umfeld waren viele verschiedene Subkulturen, darunter Hip-Hopper, Sprayer, Punks und auch Alternative. Ich wollte etwas radikal Anderes darstellen. Einerseits wollte ich kein Außenseiter sein, andererseits suchte ich die Konfrontation.
Ich verspürte eine Faszination an Gewalt, Hass auf alles Andere. So wurde für mich zunächst die Fußballszene attraktiv und wichtig. Außerdem spielte auch dort schon Kameradschaft und dieses Wir-Gefühl eine große Rolle. Antisemitismus und Rassismus waren in diesem Umfeld eine gängige Umgangsform.
Auch wenn es etwas klischeehaft klingt, aber bei mir war es auch eine Provokation gegen meine Mutter und ihr soziales Umfeld. Ich wollte sie herausfordern, doch diese Sachen wurden ignoriert und fanden so kein Contra. Später habe ich mich aber bewusst immer tiefer in die rechte Szene begeben, mir Dinge angeeignet. Ich lehnte den Staat ab, hatte Hass auf Polizei und Sicherheitskräfte und habe meine Antwort auf Frust und Perspektivlosigkeit im Nationalsozialismus gefunden.
Als Kind habe ich keine Ablehnung gegenüber dem Nationalsozialismus empfunden, habe nie einen kritischen Umgang gelernt. In meiner Kindheit bin ich zum grossen Teil bei meinen Großeltern aufgewachsen. Mein Opa war Hitlerjunge und später Wehrmachtssoldat, war stolz darauf und lebte auch noch nach dem Ende des Dritten Reichs in dieser Zeit. Für mich war mein Opa eine Orientierungsfigur. Ich empfand als Kind schon eine Faszination an den Erzählungen und verspürte falsche Gerechtigkeit. So sah ich beispielsweise den russischen Soldaten als “Bestie”, der meinem Opa zu sechs Jahre Gefangenschaft zwang, ohne den wirklichen Grund erkannt zu haben.
In der Schule wollte ich dann wieder nur provozieren, habe für mich Gegendarstellungen zum Unterricht verfasst. Durch diese Entwicklung ohne eine wirkliche Auseinandersetzung mit der ideologischen Ausrichtung festigte sich über die Jahre hinweg diese Einstellung. Für diese Ideologie war ich dann später bereit zu kämpfen.
Welche Rolle spielt der Antisemitismus, der Judenhass, heute noch in der Ideologie der Neo-Nazis?
Der Antisemitismus, der Hass auf alles Jüdische, ist natürlich noch immer der Grundpfeiler — auch der heutigen NS-Ideologie.
Auch wenn heute Diskussionen über den Holocaust oder Gaskammern nicht mehr die höchste Priorität bei den jugendlichen Neonazis haben, so sehen ältere Herren die Leugnung des Holocaust als “Befreiungskampf des deutschen Volkes” und nehmen sich dies als Lebensaufgabe an.
Eine viel wichtigere Rolle spielen schon wieder die Verschwörungstheorien. So soll “der Jude” die Strippen in der Hand haben, was soviel bedeutet, dass “er” speziell in den USA, aber auch weltweit die Machtpositionen in Politik und Wirtschaft besetzt hat.
Der “Kapitalismus” wird in der heutigen NS Bewegung mit “dem Juden” gleichsetzt. Dies macht es den Neonazis leichter, gegen Kapitalismus zu hetzten, da man Begriffe wie Antikapitalismus und Globalisierung aufnehmen kann und letztlich doch klar ist, dass es gegen das “internationale Judentum” geht.
Gibt es aufgrund der antisemitischen Ausrichtung Berührungspunkte oder Schnittmengen, mit radikalen Islamisten?
Im aktuellen Fall aus dem Iran, wo offen der Holocaust geleugnet wird, entstehen klare Übereinstimmungen mit radikalen Islamisten. Offen wird dort Antisemitismus betrieben, wonach sich beispielsweise deutsche Neonazis sehnen und diese Aussagen werden propagandistisch verwendet.
Ebenso werden Parallelen zum “Angriffskrieg” der USA auf muslimische Länder gezogen und der Widerstand gegen die US-Intervention wird folgerichtig als “Befreiungskampf” auch des “unterdrückten deutschen Volkes” verstanden.
Können Sie von praktischen Beispielen berichten?
Es wurden in den letzten Jahren immer wieder Demonstrationen mit Antikriegsthemen veranstaltet, die sich beispielshalber mit dem “Irak Krieg” beschäftigten. Ebenso kam es bundesweit zu Plakataktionen, wo man sich solidarisch mit Saddam Hussein zeigte.
Auch direkte Kontakte zu radikalen Islamisten wurden geknüpft, so gab es Treffen mit Kontaktpersonen, die über den “Widerstand” im Irak berichteten. Auch in Berlin kam es zu Teilnahmen an islamistischen Demonstrationen, bei denen offen gegen jüdische Menschen und den Staat Israel gehetzt wurde. Nachdem die Veranstalter durch die Polizei über die Teilnahme von bekannten Neonazis an den Demos unterrichtet worden waren, begrüßten einige Teilnehmer die anwesenden Neonazis.
Interview: Jörg Fischer