INFORIOT Wiglaf Droste, Jahrgang 1961, ist Autor und Sänger. In seinen satirischen Texten schimpft er über vieles und etwas seltener lobt er auch. Meistens hat er recht. Von März bis Juli diesen Jahres war Droste Stadtschreiber in Rheinsberg. Der Großstädter – lange Zeit Berlin, jetzt Leipzig – lebte also einige Monate im kleinen Brandenburg. Wir haben uns bei ihm erkundigt, wie das war.
Von Wiglaf Droste erschienen zuletzt „Im Sparadies der Friseure“ (mit sprachkritischen Texten) sowie „Auf sie mit Idyll! Rheinsberger Bogen“ (über die Zeit in Rheinsberg).
Sie haben vor ein paar Jahren mal geschrieben: „Für Brandenburg gibt es nicht den geringsten Grund; Brandenburg existiert, weil irgendetwas wohl um Berlin herumliegen muss.“ Nun waren Sie Stadtschreiber in Rheinsberg. Was ist da schiefgegangen?
Schiefgegangen ist nichts, ganz im Gegenteil. Ich habe die Perspektive gewechselt; ich fuhr nicht mehr durch Brandenburg hindurch, ich war dort. Und konnte also genau hinsehen. Sie zitieren aus meiner Geschichte „Das gelbe Grauen“, die ich vor etwa sechs Jahren schrieb, als ich noch in Berlin lebte. Aus dem Blickwinkel des Rheinsberg-Bewohners auf Zeit sieht dann plötzlich der Berliner ziemlich seltsam aus. Ich habe das in der Geschichte „Wenn der Berliner kommt…“ beschrieben. (Siehe letzte Frage)
Wie kam es zur Stadtschreiberei in Rheinsberg? Wie war es?
Peter Böthig, seit 1993 Leiter des Kurt Tucholsky-Museums, lud mich schon vor einigen Jahren ein, Rheinsberger Stadtschreiber zu werden; damals hatte ich nicht die Zeit, aber beim zweiten Anlauf klappte es, von März bis Juli 2009 war ich dort. Und konnte ein klitzekleines Bisschen mithelfen, die „Bombodrom“-Pläne der Bundeswehr alt aussehen zu lassen. Yippieh!
Rheinsberg ist doch ein Dorf, in das die Busse voller Seniorinnen und Senioren nur wegen des wackeligen Schlosses von Friedrich II. kommen. Andere und anderes, Tucholsky zum Beispiel, ist kaum zu sehen und noch weniger zu spüren. Oder?
„Seniorinnen und Senioren“ entstammt dem wattigen, vernebelnden Verlautbarungsvokabular; reden wir doch wahrheitsgemäß über alte Leute. Die sind allerdings reichlich zu Gast in Rheinsberg, oft reisebusweise und geriatriefarben angezogen, in dieser spezfischen Mischung aus beige, grau und grünlich, die vom Herannahen des Todes kündet. Andere tauchen in der Form des bikenden Fitnessrentners in entsprechend unwürdig bunter Klamottage im Städtchen auf. Sich mit der Geschichte Friedrichs in Rheinsberg zu beschäftigen, lohnt aber; ohne Preußen und Friedrichs Aggressionspolitik sind auch die weiteren deutschen Katastrophen nicht begreiflich. Das Tucholsky-Museum wird tatsächlich von weniger Leuten besucht; dafür aber von solchen, die ihrem Geist etwas Gutes tun wollen und nicht Nippes aus dem Andenkenladen suchen.
Ein Lesetipp bitte: Was sollten wir alle von Tucholsky gelesen haben?
Mit „wir alle“ weiß ich nichts anzufangen; empfehlen kann ich Tucholskys Schriften von 1919 bis 1931, da war er auf der Höhe seiner Kunst und seiner Kampfkraft. Seine Briefe zu lesen, die er schrieb, nachdem er in seinen eigenen Worten „ein aufgehörter Schriftsteller“ war, finde ich bis heute indiskret und übergriffig – eben etwas für Literaturwissenschaftler und Journalisten.
Geht man in Brandenburg zur Schule, wird man beständig mit Fontane gequält. Was halten Sie von dem?
In der Schule „Effi Briest“ lesen zu müssen, fand ich auch mau. Aber dass die alte Stinkepfeife Günter Grass ihn „Fonty“ nannte, hat Fontane nicht verdient. Er verströmt zwar einen gehörig behäbigen Großvatergroove; wenn Sie aber vergleichend Stifter lesen, kommt Ihnen Fontane geradezu rasant vor.
Wenn Sie bisher über Brandenburg schrieben, schimpften Sie meistens und lobten höchstens die niedlichen Störche. So ähnlich machen wir das auch. Gibt es eigentlich auch etwas Positives? Haben Sie Neues entdeckt während der Zeit in Rheinsberg?
Es zählt nicht zu den Pflichten des Dichters, „das Positive“ zu sehen oder es herbeizuschreiben. Die Wirklichkeit als Rheinsberger Stadtschreiber erwies sich als überraschend; vor allem die Tage an und in den Seen, die ausgedehnten Fahrradausflüge durch die Wälder, aber auch die Couragiertheit und Gewitztheit des Rheinsberger Entenvolkes – das alles war mir neu. Es war gut, und es tat gut.
Neben Ihnen gibt es noch einen anderen Westdeutschen, der in Brandenburg zu tun hat und Sprachkritik übt, nämlich den ehemaligen Innenminister Jörg Schönbohm. Was halten Sie von dessen Analyse: Überall PC-Verbote und Zensur, nicht einmal „Neger“ darf man mehr sagen?
Was erwarten Sie denn sonst von einem deutschen General? Es sind heutzutage asoziale Flegel wie Jörg Schönbohm, Oliver Pocher oder Guido Westerwelle, die sich damit brüsten, „nicht politisch korrekt“ zu sein. Wer es zum Indiz der Freiheit verklärt, „Neger“ sagen zu dürfen, der hat nicht Freiheit im Sinn, sondern im Gegenteil Feigheit: Der will nicht nur taktlos sein, wehtun und herabsetzen, sondern das auch noch ungeahndet tun dürfen, als handele es sich um ein Grund- und Menschenrecht.
Es gibt ein neues Buch von Ihnen. Was steht da drin?
Ich könnte diese Frage als Indiz einer gewissen Unvorbereitetheit Ihrerseits verstehen, aber sei’s drum: Die letzte Publikation ist der „Rheinsberger Bogen“, der ebenda entstand. Und darin findet sich, neben anderem, die folgende Geschichte, die Ihre erste Frage beantwortet und auch ein geeignetes Schlusswort ist. Voilà:
Wenn der Berliner kommt…
Am Wochenende und an kirchlichen Feiertagen überfällt den Berliner der Wunsch, ein Mensch zu sein. Zwar hat er vor lauter Wichtigkeit vergessen, was das ist und wie das geht, aber er nimmt es sich tüchtig vor und organisiert es mit der ihm eigenen Bedeutsamkeit. Mister Hyde möchte wieder Doktor Jekyll werden; zwar bleibt er immer Mister Hyde, egal wie humanoid er sich auch verkleidet, schminkt oder gibt, aber das weiß er nicht, ignoriert es also frohgemut, wirft sich in Freizeitschale, klemmt sich Mausi unter den Arm und knattert los.
Sein Ziel ist das, was er ganz selbstverständlich als „Umland“
bezeichnet; die Herablassung, die in diesem Wort steckt, ist ihm zwar nicht bewusst, aber durchaus so gemeint. Schließlich ist Berlin der Mittelpunkt der Welt, um den alles andere eben herumliegt und nur darauf wartet, mit dem Geschenk eines Besuchs beglückt zu werden. Wenn ein Berliner eine Vorstellung davon hätte, dass die von ihm als Rest betrachtete übrige Menschheit ihre eigenen und von ihm ganz unabhängigen Ziele verfolgen könnte, dann wäre das schon sehr viel.
Der Berliner hat von nichts eine Ahnung, das aber laut und vernehmlich. Er muss auch nichts wissen; er ist ja schon da, das genügt ihm vollständig und sollte auch jedem anderen ein hinreichender Grund zur Freude sein. Und so taucht er im Städtchen auf, gern in großer Schaumacherkarre oder auch auf dem heftig pött-pötternden Motorrad, jedenfalls so, dass man ihn optisch und akustisch wahrnehmen muss, ob man das nun möchte oder nicht. Hat er sein Sieht-mich-auch-jeder?-Vehikel abgestellt, walzt er in Zweier- oder in Vierrerreihe übers Trottoir wie ein gemächliches Breitwandgesäß, lässt niemanden passieren und hat demonstrativ jede Menge Zeit.
Etwas Konturloses, Matschiges, Sinnloses umweht ihn; ohne sich eine
Form zu geben, würgt und wirscht er durch die Gegend und teilt der Welt in Körpersprache mit: Ist es nicht herrlich, dass ICH jetzt frei habe? Mag sein – aber geht das die Welt irgendetwas an? Und ist es nicht erstaunlich, wie brüllend laut die angeblich stumme Körpersprache sein kann?
Dezente Zurückhaltung überlässt der ausflügelnde Berliner anderen.
Er ist inzwischen im Lokal angekommen und verlangt Bedienung. Die steht ihm zu, aber zack-zack. Ungläubig und widerwillig muss der Vertreter der Ausflugssorte Mensch zur Kenntnis nehmen, dass nicht allein er und die Seinen auf die singulär außergewöhnliche Idee einer Ausfahrt kamen; viele, viele andere sind ausgeflogen, manche sogar schon vor ihm. Bekommt er jetzt vielleicht nicht sofort einen Platz und alles, worauf er ein Anrecht hat? Skandal? Verrat? Ja, auch – vor allem aber Frechheit, jawohl: „Eine Frechheit is dett!“
Mürrisch und kurz vor maulen steht der ausflugszielfixierte Berliner im Lokal und hühnert mit den Füßen. Beinahe schon hat er ein abschließend wegwerfendes „Also hier kannste ja ooch jarnisch mehr hinjehn!“ auf den Lippen, als er doch noch einen freien Tisch erspäht. Allerdings steht dieser recht entlegen halb um die Ecke, und die Rückenlehnen der Stühle sind gegen die Tischkanten gekippt. Über diese kleinen Zeichen sieht und geht der Ausflügler großzügig hinweg, eilt samt seinem Tross hinzu, rückt und ruckelt sich das Gestühl ostentativ und abermals gut vernehmlich zurecht, macht es
sich bequem und schaut mit erwartungsvoll gerundetem Karpfenmund zu
Kellnerin und Kellner.
Die allerdings haben gut zu tun, und ihre Wegschneisen liegen
abseits des Tisches, an dem Familie Sitzsack Platz genommen hat. Die
Stimmung am Tisch verdüstert sich; wie kann das sein? Wir sind schon zwei Minuten hier, und das Essen steht noch nicht auf dem Tisch? Es wird nach Bedienung gewinkt, gerufen, mit den Fingern geschnipst und sogar gepfiffen; auch diese groben Regelverstöße bleiben folgenlos, in jeder Hinsicht. Nun macht der Ausflugsfamilienvorstand die Angelegenheit zur Chefsache, steht auf, strafft sich, sandalettet in einen weniger dezentral gelegenen Bereich des Gartenlokals hinüber und stellt sich entschlossen und mutig einer Kellnerin in den Weg. Die, ein volles Tablett in den Händen, erklärt ihm dennoch geduldig, dass an jenem Tisch leider nicht bedient werde; zu diesem Zeichen habe sie ja auch die Stühle gegen den Tisch gelehnt.
Das Gesicht des Ausflüglers wird zur Bühne, auf der ein
faszinierendes Schauspiel sich ereignet: Zehntelsekunde für Zehntelsekunde kann man dabei zusehen, wie lange es dauert, bis der Groschen fällt. Als er durchgerutscht ist, klappt dem Ausflügler der Mund auf. In wortloser Wut starrt er die Kellnerin an, dreht sich um und macht seinem Klüngel ein Handzeichen, aufzustehen. Geräuschvoll rauscht die Truppe ab. Im Gesicht des Chefausflüglers aber arbeitet es. Seine Sprache kehrt in ihn zurück. Er dreht sich noch einmal um, schwillt zu voller Bedeutung an und entlässt den Inhalt seines Triumphatorenkopfes in den Tag: „So kann ditt ja nüscht wern im Osten!“ – Nein, da muss erst einer wie er kommen, bis alles so schön ist wie überall.
Was ist der Unterschied zwischen Terroristen und Touristen?
Terroristen haben Sympathisanten.