(PNN) Potsdam — Brandenburgs Generalstaatsanwalt Erardo Rautenberg hat eine „Versachlichung“ der Debatte über Gewalt- und Extremkriminalität in Ostdeutschland angemahnt, die durch den neunfachen Babymord von Frankfurt/Oder ausgelöst worden war. In einem Gespräch mit den PNN wies Rautenberg jetzt darauf hin, dass es in Zeiten abrupter gesellschaftlicher Umbrüche immer eine gewisse Häufung von extremen Verbrechen gegeben habe. „Es ist durchaus typisch für Umbruchzeiten, in denen soziale Absicherungen, familiäre Beziehungen, staatliche Netze wegbrechen und psychologische Belastungen wachsen, dass es häufiger zu Verbrechen wie extremen Tötungsdelikten kommt“, sagte Rautenberg. „Das war zum Beispiel nach dem 1. Weltkrieg so oder auch nach dem 2. Weltkrieg.“ Nach dem Zusammenbruch der DDR seien auch in Ostdeutschland „bisherige soziale Kontrollmechanismen weggebrochen“, so der Generalstaatsanwalt. „Neben Umorientierungen gibt es da fast zwangsläufig auch Desorientierungen.“
Nach Auffassung Rautenbergs sind Ursachen für die höhere Gewaltkriminalität in Ostdeutschland vor allem in diesen Wende-Auswirkungen zu suchen und weniger in der DDR-Geschichte, zumal es bislang offenbar keine belastbaren Vergleichszahlen zu Kriminalität und Tötungsverbrechen in DDR-Zeiten gibt. Rautenbergs Prognose: Erst wenn die wirtschaftliche Lage in Ostdeutschland deutlich besser wird, sich neue Strukturen etabliert haben, „kann man mit einer Entspannung rechnen“.
Allerdings wachsen bei Experten und Landespolitikern längst Befürchtungen, dass diese Hoffnung für Brandenburg trügerisch ist – weil die Wendewirren hier nahtlos in den demographischen Bruch übergehen, die anhaltende Entvölkerung und Verarmung der berlinfernen Randregionen des Landes. Die hier besonders starke Abwanderung von Leistungsträgern, von Jungen, Mobilen und Gebildeten führe zu einer „sozialen Abwärtsspirale“ zu einer „Homogenisierung“ der Bleibenden, warnt der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer.
„Manche werden apathisch, andere werden aggressiv“, sagte Heitmeyer. Es fehle die produktive Spannung, der kulturelle Streit. Es komme zu einer „gewissen geistigen Verarmung dieser Regionen“. Heitmeyer nennt ein Beispiel: Die wenigen Jugendlichen in solchen Regionen hätten fast keine Wahl mehr, aus ihrer Clique auszubrechen, „weil es keine andere gibt“. Also schweige man, damit man den einzigen Freundeskreis nicht verliert. „Man muss darüber offen, ohne Tabus diskutieren“, fordert der Soziologe.
Brandenburgs Regierung hat – unabhängig der aktuellen Debatte um Hintergründe der Babymorde und anderer Extremverbrechen wie Potzlow oder dem toten Dennis in der Tiefkühltruhe – das Problem längst erkannt. Auch deshalb hat Regierungschef Matthias Platzeck (SPD) die „Demografie“ zur Chefsache erklärt. Und der frühere Staatskanzleichef und jetzige Finanzminister Rainer Speer warnte schon vor geraumer Zeit offen vor der „Verelendung“ von ganzen Landstrichen Brandenburgs, wobei er den Begriff inzwischen nicht mehr verwendet.
„Zu befürchten ist eine gesellschaftliche Verrohung der Sitten“, warnte etwa der Politikwissenschaftler und Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion Thomas Kralinski in einem Beitrag für das SPD-Blatt „Perspektive 21“ im April 2005. „In den peripheren Regionen entsteht so eine männlich dominierte Gesellschaft, die sich zum großen Teil aus sozialen und wirtschaftlichen Verlierern mit relativ schlechter Bildung und unsicheren oder gar keinen Arbeitsplätzen rekrutieren wird.“ Die schwierigen Jahre seien aber nur durch „mehr sozialen Zusammenhalt“ zu bewältigen. Dieser sei aber bedroht, was Kindesmisshandlungen, Angriffe auf ausländische Geschäfte und Anti-Hartz-Demos zeigten. „Noch viel mehr aber greift Desinteresse an der Heimat, demonstratives Wegschauen und ein Ohnmachtsgefühl vieler Menschen um sich“, analysierte Kralinski.