“Berliner benehmen sich wie Raubritter”
Seit in Berlin ein Brandenburger V‑Mann in der Neonazi-Szene enttarnt wurde, entzweit ein Streit die beiden Länder: War es Absicht, mangelnde Absprache — oder musste der Spitzel abgeschaltet werden, weil er Straftaten begangen hatte?
Berlin/Potsdam (Der Tagesspiegel, 31.07.2002) — Die Berliner Staatsanwaltschaft hat Vorwürfe zurückgewiesen, sich im Rahmen der „V‑Mann-Affäre“ fehlerhaft verhalten zu haben. Die Ermittlungen seien korrekt geführt worden und „müssten in einem vergleichbaren Fall wieder so geführt werden“, heißt es in einer Mitteilung der Justizverwaltung. Diese will jedoch die Berliner und Brandenburger Ermittlungsbehörden zu Gesprächen über die zukünftige Kooperation einladen. Wie berichtet, hatte der Staatsschutz am vorvergangenen Wochenende bei einer Razzia zwei Neo-Nazis verhaften lassen, von denen einer als V‑Mann für den Brandenburger Verfassungsschutz arbeitete – dies war durch eine Indiskretion Berliner Stellen an die Öffentlichkeit gelangt.
Auch der rechtspolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus Klaus-Uwe Benneter kann keine Fehler der Berliner Sicherheitsbehörden erkennen: Der V‑Mann sei offensichtlich an Straftaten beteiligt gewesen. Das dürften V‑Leute aber nicht, folglich hätten die Berliner Behörden nicht davon ausgehen können, dass es sich bei dem Mann möglicherweise um eine Quelle der Brandenburger handele. Vielmehr hätte der dortige Verfassungsschutz „den Mann abschalten müssen“, der augenscheinlich aus dem Ruder gelaufen sei, sagte Benneter.
Die Berliner Staatsanwaltschaft wirft dem 27-jährigen Cottbuser S. – dem mutmaßlichen V‑Mann – Volksverhetzung, Verbreitung von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen und das Verwenden von Kennzeichen solcher Organisationen vor. Das Strafmaß dafür reicht bis zu drei Jahren Haft – es sei denn, die Tat gilt „der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen“. S. befindet sich noch in U‑Haft, ebenso wie der Berliner Lars B. Weitere Beschuldigte befinden sich auf freiem Fuß. S. soll in Guben einen Plattenladen betreiben, unter desssen Ladentisch auch verbotene CD’s rechtsextremer Bands verkauft worden sein sollen. Ziel der Fahnder war eine zweite Auflage der CD „Noten des Hasses“ der Nazi-Band „White Aryan Rebels“. Bei der Razzia in einem Marzahner Vereinsheim und an 17 weiteren Orten in Deutschland sollte auch die Beschlagnahmung mehrer tausend Exemplare dieser CD sein, die im Ausland gebrannt worden sind. Dies schlug jedoch fehl.
Justizsprecherin Ariane Faust sagte, die beiden U‑Häftlinge seien verdächtig, in die Neuauflage der CD verwickelt zu sein. In den Texten wird unter anderem zum Mord an Prominenten aufgerufen. Es bestehe dringender Tatverdacht und Fluchtgefahr. Auslöser der Durchsuchungsaktionen seien Hinweise eines Zeugen gewesen. Auch die Durchsuchungen in Brandenburg seien von den Berliner Staatsanwälten durchgeführt worden. Allerdings hätten sie, „wie üblich aus Kollegialitätsgründen“, die Cottbuser Staatsanwaltschaft kurz zuvor darauf hingewiesen.
Schönbohm: Von den Straftaten des V‑Manns nichts gewusst
Innenminister Jörg Schönbohm wies Vorwürfe aus Berliner Sicherheits- und Justizkreisen zurück, dass der von der Berliner Polizei verhaftete 27-jährige V‑Mann S. aus Cottbus dem Brandenburger Verfassungsschutz „aus dem Ruder gelaufen“ sein könnte. Gegen den V‑Mann habe das Brandenburger Landeskriminalamt selbst Ermittlungen geführt, sagte Schönbohm. Auch sei gegen S. seit März letzten Jahres ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren Verfahren in Cottbus wegen Propaganda-Straftaten anhängig.
Schönbohm stellte klar, dass er von der von den begangenen Straftaten und der Rolle des V‑Mannes in der rechtsextremistischen Musik-Szene und den Ermittlungen des Brandenburger LKA und der Cottbuser Staatsanwaltschaft nichts gewusst habe. Die Ermittlungen sind nach seinen Angaben so geführt worden, dass der Erfolg der geplanten Aktion gegen einen international operierenden Ring neonazistischer CD-Musikhändler nicht gefährdet werden konnte. Die Hinweise an das LKA sind offenbar vom Verfassungsschutz gekommen. Man habe sich deshalb nichts vorzuwerfen, verlautete aus Brandenburgs Verfassungsschutz: Das Strafgesetzbuch sehe bei der Verfolgung von Propaganda-Straftaten Ausnahmeregelungen vor, wenn die Handlungen der staatsbürgerlichen Aufklärung und der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen dienten.
Der Potsdamer Innen-Staatssekretär Eike Lancelle erklärte, nicht Schönbohm, sondern Berliner Behörden müssten sich Fragen gefallen lassen: Zum Beispiel, warum in Berlin ein Strafverfahren gegen S. eingeleitet worden sei, obwohl in Cottbus ein Verfahren seit März 2001 laufe. Dies sei den Berliner Ermittlungsbehörden bekannt gewesen, sagte Lancelle. Fragen müsse man auch zu den Indiskretionen aus Berliner Sicherheitsbehörden stellen. „Solche Lecks bei Themen dieser Sensibilität müssen die Berliner Führung alarmieren“, sagte Lancelle. Auch Innenminister Schönbohm blieb bei seiner Kritik am Verhalten der Berliner Behörden, die durch die Enttarnung des V‑Mannes die angelaufene Fahndung nach Hintermännern des neonazistischen CD-Handels massiv gefährdet hätten. Was Berlin gemacht habe, sei „unsäglich“ und werde weitreichende Konsequenzen für die künftige Zusammenarbeit haben.
Lancelle kündigte an, dass er die Parlamentarische Kontrollkommission kurzfristig über die Vorgänge informieren werde. Deren Vize-Vorsitzender Dierk Homeyer (CDU) warf den Berliner Sicherheitsbehörden vor, „sich wie Raubritter zu benehmen”. Er spielte damit auf die Durchsuchung der Wohnung des S. in Cottbus durch Berliner Sicherheitskräfte an, ohne dass Brandenburger Beamte anwesend waren. Bis heute lägen Brandenburgs Behörden nicht einmal die Vernehmungsprotokolle des S. vor.
(Von Holger Wild und Michael Mara)