(Henri Kramer) Rostock / Potsdam — Scharfgezackte Steine fliegen, 50 schwarzgekleidete Autonome rennen verfolgt von der Polizei auf die Kundgebung zu, mischen sich unter normale Demonstranten. Die Polizei geht vorerst nicht weiter. Da schreit ein Mann mit grauen Haaren die jungen Vermummten an: „Werft die Steine weg.“ Eine größere Gruppe kommt zusammen, die die Autonomen wegdrängt. „Masken runter“, rufen sie. Unter den Protestlern im Protest steht in diesem Augenblick der Potsdamer Carl Ziegner. Später sagt er: „Mir war ganz schön mulmig – aber solche Gewalt will ich nicht.“ Dennoch: Die Medien zeigten von der Anti-G8-Großkundgebung vor allem die Gewaltbilder. Ziegner bedauert das: Der 28-Jährige hat einen anderen Tag in der Hansestadt erlebt.
Nach drei Stunden Schlaf beginnt sein Samstag um 4 Uhr. Eine Stunde später steht er auf dem Bassinplatz, auf dem vier Busse auf die Potsdamer G8-Kritiker warten. 215 wollen auf die Art nach Rostock fahren, sagt Holger Zschoge vom Potsdamer Anti-G8-Bündnis. Andere kommen privat, mit Bahn oder Auto: Vom Chamäleon-Wohnprojekt, von der Autonomen Antifaschistischen Linke Potsdam… Mit der Demonstration wollen sie versuchen, gegen den G8-Gipfel der größten Industrienationen zu protestieren. Der Tag in Rostock soll Auftakt sein – und die Chance zum Demonstrieren für Leute, die unter der Woche keine Zeit haben. Carl Ziegner etwa ist Geschäftsführer des biologischen Cafés Kieselstein in der Hegelallee. Schon deswegen hat er Gründe, sagt er, den Weg nach Rostock auf sich zu nehmen: „Ich bin für gerechteren Handel in der Welt, dass beispielsweise Kaffeebauern in Südamerika ordentlichen Lohn für ihre Arbeit erhalten und nicht weiter von uns ausgebeutet werden.“ Dies versuche er in seinem Café zu leben: Mit fair gehandeltem Produkten, etwa bei Kaffee und Kakao. „Ich hoffe, dass die Politik internationale Mindeststandards bei Löhnen festsetzen kann – und nicht nur an die Gewinnmaximierung der Konzerne denkt.“ So sei er eben auch kein Gegner der Globalisierung an sich, nur die Art und Weise störe ihn – und die Tatsache, dass Kritiker des Gipfels als Terroristen kriminalisiert würden.
Doch mit allen Meinungen innerhalb der G8-Gegner, auch der Potsdamer, geht Carl Ziegner nicht konform. In Rostock schmunzelt er etwa über die Fülle der Handzettel, die ihm während der Demo verschiedenste Helfer in die Hand drücken wollen: Kommunisten, Anarchisten, Veganer, Naturschützer, junge Christen – alle nutzen den Protest als Podium für ihre Ideen. „Ich selbst fühle mich eher den Grünen verbunden, auch wenn die sich hier leider nur wenig beteiligen“, sagt der junge Potsdamer. Doch schön sei in jedem Fall, dass sich so viele verschiedene Gruppen an einem Tag versammelt hätten – auch wenn manche Slogans ihn stark an DDR- und Klassenkampf-Rhetorik früherer Tage erinnerten, so Ziegner.
Doch das stört ihn nicht weiter. Wichtiger sei das Gruppengefühl in der Demo, die vielen Ideen und phantasievollen Aktionen an ihrem Rande. Auf 70 000 schätzt Ziegner die Zahl der Demonstranten, bleibt manchmal längere Zeit stehen, um die verschiedenen Teile der Demo anzuschauen. Begeistert ist er von den Clowns, die die Veranstalter der Demo geordert haben, weil diese mit viel Charme versuchen, auch die Polizisten am Rande des Demozugs zum Lächeln zu bewegen. Deeskalation. Vorerst.
Auch als Ziegner gegen 15 Uhr die ersten fliegenden Steine wahrnimmt, entspannt sich die Situation recht bald, weil die Autonomen überrascht scheinen, dass ihnen Leute aus der eigentlichen Demo entschlossen Paroli bieten. Ziegner sieht jedoch da schon einen Ford, der erheblich beschädigt ist. In der Nähe wird ein Demonstrant am Kopf behandelt. Im Hintergrund rufen die Veranstalter über Lautsprecher, dass die Polizei nicht weiter provozieren soll. Das behagt Ziegner nicht: „Die Autonomen haben angefangen.“
Doch nun hat er Hunger, aber an den wenigen Essständen am Hafen stehen lange Schlangen. So entscheidet sich Ziegner gegen 16.40 Uhr, in die Innenstadt zu gehen, um weniger lang für eine Bratwurst anzustehen. Als er gegen 17.50 Uhr zurück zum Hafen will, hindert ihn zunächst die Polizei. Über Schleichwege schafft er den Weg trotzdem – und sieht plötzlich elf Wasserwerfer und zwei Räumpanzer. Im Hintergrund läuft das geplante Konzert zum G8-Protest.Ziegner steht schließlich zwischen den beiden Polen. Und muss von da an immer wieder kurz rennen: Wasserwerfer schießen auch ins normale Publikum, martialisch wirkende Polizeigruppen versuchen in Zehnergrupps einzelne Verdächtige festzunehmen, rennen in die Demo, knüppeln. Manche fliehen in solchen Situationen, einer Panik nahe. Steine schwirren knapp an Demonstrantenköpfen vorbei, die wohl eigentlich Polizisten hätten treffen sollen.
Auch Lutz Boede aus Potsdam von der Fraktion Die Andere hat die Bilder noch im Kopf. „Es war absurd, vorn das Konzert und Bierstände, auf der anderen Seite Krawalle.“ Bei aller Kritik an taktischen Fehlern der Polizei – kein Verständnis habe er für die Steinewerfer. „So ein Verhalten ist indiskutabel.“ Auch Carl Ziegner ist von den Krawallen einen Tag später noch enttäuscht: „Es ist schade, dass sich die Polizei so hat provozieren lassen und so normale Demonstranten ins Visier genommen hat.“ Das habe die Situation verschärft. „Über das Grundanliegen der Demo redet nun leider niemand mehr.“