(MAZ, Ulrich Wangemann) Sein Name steht für die finstersten Stunden der Stadt: Hans Heinze, Leiter
der Landesanstalt Görden von 1938 bis 1945. Mindestens 1200 Kinder ließ der
Arzt während seiner Amtszeit in der Anstalt als “lebensunwert” töten.
Nun ist dem schrecklichen Arzt, den ein sowjetisches Militärtribunal nach
dem Krieg zu sieben Jahren Haft verurteilt hatte, posthum eine unerwartete
Ehre zuteil geworden: Die russischen Behörden haben ihn rehabilitiert. Wie
das Nachrichtenmagazin “Der Spiegel” in seiner Online-Ausgabe berichtet,
stellte die Moskauer Militärstaatsanwaltschaft bereits 1998 formell die Ehre
nrechte des Massenmörders wieder her.
Deutscher Forscher gab Anstoß
Was daran besonders verstört: Es geschah auf Antrag des Historiker
Klaus-Dieter Müller, damals Mitarbeiter am renommierten Dresdener
Hannah-Ahrendt-Institut für Totalitarismusforschung — im Dienste der
Wissenschaft, sagt Müller: “Der Rehabilitierungsantrag war der einzige Weg,
an Informationen zu kommen.”
Ans Licht brachte den Fall die Berliner Historikerin Annette Weinke,
Mitarbeiterin an einem Forschungsprojekt zur Geschichte Brandenburgischer
Heil- und Pflegeanstalten. “Mich hat stutzig gemacht, dass der
wissenschaftliche Zweck die Mittel offenbar heiligt”, sagte die 41-Jährige
gestern dem Stadtkurier. Es sei “lange überfällig, dass diese Praktiken
diskutiert werden.”
Anstalts-Belegschaft ist empört
Empört reagierte auch die Landesklinik: “Wir sind überrascht und bestürzt”,
sagte Verwaltungschefin Dorit Zahn. “So weit darf ein Forscher nicht gehen.”
Es sei schlimm, dass die Sache so lange geheim geblieben sei. Die Fakten
sprächen allerdings eine klare Sprache. Der Euthanasie-Arzt sei nicht nur
für die Toten verantwortlich. “Wir wissen, dass Heinze mindestens 1900
Patienten hat zwangssterilisieren lassen”, so Zahn. Die Anstalt hat sich
intensiv mit ihrer Vergangenheit auseinander gesetzt. Im Juni eröffnete eine
Dauerausstellung zu dem Kindermord hinter den Backsteinmauern.
Forscher Müller ist selbst ein wenig erschrocken, was er ins Rollen gebracht
hat. “Es tut mit Leid, wenn ich Menschen in ihrem Ehrgefühl verletzt habe”,
sagt der Historiker, der heute bei der Stiftung Sächsischer Gedenkstätten
arbeitet. “Ich hätte es vermutlich nicht getan, wenn ich geahnt hätte, dass
die Rehabilitierung durchkommt”, sagte der Historiker gestern.
Müller hat Erfahrung mit dieser besonderen Art der Recherche. Er hat
Hunderte von Rehabilitierungsanträge für andere Forscher, Privatleute und
öffentliche Institutionen gestellt. Wer beim Auswärtigen Amt eine solche
Auskunft erwirken will, wird in der Regel an den erfahrenen Forscher
verwiesen.
Im Fall Heinze habe er fest mit einer Ablehnung des
Rehabilitierungsbegehrens gerechnet — in einem solchen Fall geben die
Behörden dennoch Informationen heraus. Dass es dennoch anders gekommen sei,
bedauere er. Sarkastische Bemerkungen wie die seines Historikerkollegen Götz
Aly, nun könne man ja Straßen nach Hans Heinze benennen, empfindet Müller
als “aus der Luft gegriffen”. Das Wissen über die Verbrechen Heinzes sei
überwältigend. Auch seien allein mit der Rehabilitierungsurkunde keine
Wiedergutmachungsforderungen von Angehörigen möglich.
Ein mulmiges Gefühl hat der Streit um Heinze bei Joachim Harbrecht
hinterlassen. Der Anstaltsleiter hatte Harbrechts an Epilepsie leidende
Schwester Inge 1940 in den Gastod geschickt — sie war sechs Jahre alt. Ihr
Gehirn ließ der Doktor sezieren und schickte das Präparat zum
Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung nach Berlin. “Offenbar ist nichts
unmöglich”, sagte gestern der Rentner, der in der Nähe von Bremen wohnt.
Unlängst erst hatte er erfahren, dass das Hirnpräparat seiner Schwester 1990
in München beerdigt worden war. Gestern erst schickte Harbrecht einen Brief
nach München mit der Bitte , ihm ein Foto vom Grabstein zu schicken. “Ich
dachte, ich könnte die Akte schließen”, sagte Harbrecht. Die Vergangenheit
kommt auch nach 64 Jahren nicht zur Ruhe.