Eisenhüttenstadt ist eine normale Stadt.
Hier im Grenzgebiet werden Menschen wegen ihrer Hautfarbe angegriffen, Flüchtlinge werden in Heimen zusammengepfercht, ihnen wird freie Bewegung versagt… Der ganz normale, alltägliche Rassismus – den man in jeder deutschen Stadt nden wird.
Eisenhüttenstadt ist keine normale Stadt! In Eisenhüttenstadt benden sich eine Außenstelle des „Bundesamts für die Anerkennung politischer Flüchtlinge“, die zentrale Erstaufnahmestelle
(ZASt) und die zentrale Abschiebehaftanstalt (ZAB)des Landes Brandenburg auf demselben Gelände. Eisenhüttenstadt ist Inbegriff des deutschen
Abschiebesystems!
Das Rassismus-Puzzle
Menschen, die Deutschland als Flüchtlinge betreten, werden in ein Geecht diskriminierender Gesetze und Institutionen
gedrängt.
Legal ist die Einreise lediglich über den Luftweg möglich, nur so gibt es überhaupt eine minimale Chance nicht sofort in einen „sicheren Drittstaat“ abgeschoben zu werden. Durch Abkommen mit Flughafenbehörden anderer Staaten schwindet auch diese geringe Chance zunehmend. Modelle für Auffanglager vor
den Grenzen Europas werden diskutiert, geprobt und schrittweise legalisiert. Das Schengener Informationssystem SIS und das €päische Fingerabdruck-Identizierungssystem EURODAC speichern biometrische Daten
von AsylbewerberInnen zentral bzw. gleichen die Datenbankbestände der EUStaaten ab. In absolut fragwürdigen
Schnellverfahren werden viele Asylanträge bereits am Flughafen abgelehnt – ausreichend rechtliche Information,
Übersetzungen und psycho-soziale Unterstützung für Traumatisierte sind meist nicht gewährleistet.
Diejenigen, die den illegalen Weg der Einreise versuchen, werden von den Grenzschutzpolizeien Europas empfangen, die mit modernster Technik ausgestattet sind.
Im Land erwarten Flüchtlinge diskriminierende Gesetze wie die Residenzpicht und ein weitgefächertes, dezentrales Internierungssystem von Erstaufnahmestellen, Flughafenknästen, Heimen verschiedenster Ausrichtung, Abschiebeknästen, Ausländerbehörden und Meldestellen.
Verdachtsunabhängigen Kontrollen durch Polizei und Grenzschutz unterworfen zu werden, gehört für (vermeintlich) Nichtdeutsche zum Alltag.
Die deutsche Öffentlichkeit und ihre selektive Wahrnehmung
Die Debatten um die Toten an der
Mauer, die durch DDR-Grenzsoldaten starben,
schlugen einstmals hohe Wellen.
Um die Fluchttoten der Gegenwart legt
sich allgemeines Schweigen. An den EUAußengrenzen
sind in den letzten zehn
Jahren allein im Mittelmeer nach ofziellen
Angaben rund 1000 Flüchtlinge ertrunken,
Pro Asyl schätzt die Zahl auf 5000. An der
Oder-Neiße-Grenze allein starben mehrere
hundert.
In der Öffentlichkeit wird die Einwanderung
von Flüchtlingen vor allem als kriminelles
Phänomen verhandelt. Organisierte Fluchthelfer
werden generell als „Schlepperbanden“
denunziert, die individuellen Gründe
zu iehen, werden als „Wirtschaftsucht“
delegitimiert.
Der in den Institutionen xierte Rassismus
harmoniert mit dem des alltäglichen
Lebens und er befördert ihn. Der Tritt des
Nazistiefels, der Hass auf der Straße gegen
das vermeintlich Fremde und Andere, die
Einigkeit einer Möchtegern-Weltoffenen-
Neu-Friedlich-und-Wir-sind-wieder-wer-
Nation, haben etwas gemeinsam: sie
können ungesteuerte Einwanderung nicht
ertragen.
Die unterste Klasse…Rassismus und
Ökonomie
Das weltweite Geldtransferunternehmen
Western Union wirbt in großen Plakatkampagnen
mit MigrantInnen, die aus den
Industrieländern Geld zu ihren Familien
schicken. Gezeigt wird, was der Werbeagentur
selbstverständlich erscheint. Die
Zielgruppe der Werbung soll wissen:
„Ich bin hier, um Geld nach Hause zu
schicken.“ Ein neuer Lebensmittelpunkt soll
in Deutschland nicht gefunden werden.
Die Aussage der Werbung negiert die
Realität, in der es für fast alle Nichtdeutschen
unmöglich ist, einen Job zu nden
und unter derartig guten Bedingungen zu
leben, dass Geld „nach Hause“ geschickt
werden könnte.
Aus den weltweiten Wohlstandsgefällen in
Folge des Kolonialismus, aus Migration
und Flucht lässt sich Kapital schlagen.
Gleichzeitig aber wird die sogenannte
Wirtschaftsucht als eine niederträchtige
Handlung dargestellt. Das Verlassen des
Landes, weil es einem woanders besser
geht, sei unsolidarisch gegenüber der „Heimatnation“,
egoistisch und geradezu luxusversessen.
Dass der/die Durchschnitts€päerIn permanent
aus Spaß und Freude an Exotik
Urlaub macht, wo es ihm oder ihr
beliebt, dass die €päische Wirtschafts-
ucht bzw. die Suche nach dem besseren
Leben – das sogenannte Auswandern bzw.
Aussteigen — nach Kanada, Australien oder
Südafrika oder wohin auch immer Dauerbrenner
sind, kommt dabei niemandem in
den Sinn.
Auch das Abschiebesystem selbst ist ein
Geschäft — im privaten wie im öffentlichen
Sektor. Wohlfahrtsverbände, Sicherheitsdienste
und Fluggesellschaften verdienen
daran. Andererseits wendet der Staat
extrem viele nanzielle sowie organisatorische
Mittel auf, um die gesamte Struktur,
die eine ausgegrenzte Unterschicht von
Rechtlosen produziert, am Leben zu erhalten.
Flüchtlingen wird das Recht, sich zu bilden
oder zu arbeiten, versagt. Sie werden in
die Illegalität getrieben und zugleich Opfer
im Kampf gegen sogenannte „Schwarzarbeit“.
Selten interessieren
sich Gewerkschaften
dafür, wenn sie nicht
sogar wie im Fall der
IG Bau in Hetzkampagnen
gegen illegale
Beschäftigung mit einstimmen.
Die Bewerbungsmechanismen
bei den
Behörden, um einer
legalen, bezahlten
Tätigkeit nachgehen zu dürfen, sind langwierig
und demütigend — die Maxime ist,
dass der Flüchtling ganz unten steht: nur
Jobs, die kein Deutscher, kein EU-Bürger
machen will, dürfen an Flüchtlinge vergeben
werden.
Das Internierungslager verdammt zu
Lethargie und Untätigkeit – auch selbstorganisiertes
Arbeiten, politisches Engagement
werden mißtrauisch beäugt,
denunziert und systematisch
verunmöglicht.
Arbeit zu suchen oder zu arbeiten bedeutet
für Flüchtlinge das Risiko ihrer Abschiebung
zu erhöhen.
Die Fixierung der Machtlosigkeit von
Papierlosen, sogenannten Nicht-Deutschen,
Nicht-EU-Bürgern, die Erhaltung
dieser Klasse der Rechtlosen ist eines der
Ziele der Abschiebe- und Internierungsmaschinerie.
Die Schikanierung, Isolation und
permanente Demütigung bricht Unzählige
auf immer psychisch, gekoppelt mit der
Gefahr, dass am Ende die Abschiebung
stehen könnte.
SCHLUSS DAMIT – IN EISENHUETTENSTADT
UND ÜBERALL –
Vom 2. bis 5. September wollen wir
im Rahmen der Anti-Lager-Tour in
Eisenhüttenstadt gegen die Einsperrung
und Ausgrenzung von Flüchtlingen protestieren.
Die Tour wird Station an diversen Orten
der Internierung in der ganzen Bundesrepublik
machen. Der Name der Tour richtet
sich gegen „Lager“ – gemeint ist jenes
bereits beschriebene dezentrale System
aus verschiedensten geschlossenen (z.
B. Abschiebeknäste) sowie halboffenen
Internierungseinrichtungen wie Einreise‑,
Ausreisezentren und Heimen. Die Beschreibung dieser Struktur als „Lager“ ist innerhalb
des Vorbereitungsbündnisses nicht
unumstritten. Jener Begriff spielt, gewollt
oder ungewollt, immer mit der Assoziation
an die Lager der NS-Zeit und legt Gleichsetzung
nahe, dort, wo Differenzierung an
erster Stelle stehen müsste.
Der deutsche Begriff des Lagers öffnet Tore
für die Relativierung von Geschichte. Es
soll daher festgehalten werden, dass es
nicht darum geht, eine solche Gleichsetzung
zu betreiben.
Die Repressionen und die Unmenschlichkeit
des Systems der Ausgrenzung
und Abschiebung sprechen eine deutliche
Sprache. Unsere Kritik muss die bestehenden
Verhältnisse anprangern, ohne
denen zuzuarbeiten, die die Singularität
des nationalsozialistischen Vernichtungsprogrammes
zu leugnen versuchen.
Wir sind die Guten?
Es ist nicht der erste Versuch einer bundesweiten
Mobilisierung gegen die bundesdeutschen
Zustände. Seit 1998 gab
es jedes Jahr große No-Border-Camps in
Deutschland, die von breiten Bündnissen
organisiert wurden. Dabei hat sich gezeigt,
dass auch der Protest gegen Rassismus
von Ereignissen begleitet wurde, die sich
nicht wiederholen dürfen. Es ließ sich in
den letzten Jahren immer wieder beobachten,
wie unter den Protestierenden
unsägliche rassistische, sexistische sowie
antisemitische Äußerungen auftraten,
wobei letztere zum Beispiel auf einem
Workshop zum Nahostkonikt mit mit
körperlichen Angriffen einhergingen. So
sollten sexistische Übergriffe, die
Verdrängung eigener Rassismen sowie der
Versuch, etwa in Strasbourg 2002 eine
jüdische Synagoge zu beschmieren, Anlass
genug sein, die Wiederholung von Derartigem
zu verhindern. Auf dem Camp in
Eisenhüttenstadt ist kein Platz für Sexismus,
Rassismus und Antisemitismus!
Eisenhuettenstadt — ein Musterbeispiel
deutscher Internierung
Die ehemalige Industriestadt
Eisenhüttenstadt wurde Anfang der 50er
als Arbeiterstadt des Eisenhüttenkombinats
Ost gegründet – damals noch als Stalin
stadt. Auf einem ehemaligen NVA-Gelände
entstanden seit 1990 mehrere Einrichtungen
des beschriebenen Internierungssystems.
Zum einen dient die Zentrale
Erstaufnahmestelle (ZASt) als erzwungener
erster Anlaufpunkt für Asylbewerberinnen
in Brandenburg, zum anderen bendet
sich direkt daneben die Zentrale Abschiebehaftanstalt
des Landes. Ferner bendet
sich dort eine Außenstelle des „Bundesamts
für die ‚Anerkennung’ politischer
Flüchtlinge“. Einzigartig in Deutschland
sind diese Einrichtungen des dezentralen
Lagersystems auf einem Fleck.
Einem Fleck mit einer traurigen
Geschichte: 1992 eskalierte wie in vielen
anderen deutschen Städten pogromartig
die Gewalt gegen die Menschen in der
ZASt. Brandsätze wurden von Nazis auf
die Gebäude geworfen. Seitdem sind auch
in den späteren Jahren immer wieder
gewalttätige Übergriffe auf AsylbewerberInnen
dokumentiert worden.
Allein in den Jahren 1996 – 2002 zählte
der Verein Opferperspektive 46 Übergriffe,
die in der Presse bekannt wurden. Die
Dunkelziffer dürfte um einiges höher sein.
Im Jahre 2000 gab es einen weiteren
Skandal. Das Europäische Antifolterkomitee
forderte die Entfernung von vier in den
Boden eingelassenen Metallringen, die zur
Fesselung von Flüchtlingen im Neubau der
Abschiebehaftanstalt angebracht worden
waren. Noch heute werden Inhaftierte mit
„besonders hohem Aggressionspotential“
dort teilweise über mehrere Tage gefesselt
– nur jetzt mit einem Gurtsystem der
Firma Segux.
Menschen werden vor ihrer Abschiebung
in Abschiebknästen maximal bis zu anderthalb
Jahren festgehalten. Ihr einziges Verbrechen
ist, dass die Ausländerbehörde
vermutet, sie könnten untertauchen.
Auch die Zustände in der Erstaufnahmestelle
sind schlecht. Es gibt nur einen veralteten
Rechtsberatungslm, der Menschen
angeboten wird, die in einer völlig neuen
Situation, möglicherweise traumatisiert, oft
hilos und nicht mit ihren Rechten vertraut
sind. Angebote verschiedener Organisationen,
wie des Deutschen Anwaltsvereins,
Beratungsgespräche vor Ort anzubieten
oder Schautafeln mit rechtlichen Hinweisen
für die Flüchtlinge aufzustellen, wurden
vom Innenministerium immer wieder abgelehnt.
Für die Stadt ist all das ofziell weder
ein Thema, noch ein Problem. Seit 2003
bemüht man sich mit dem Standort-Projekt
„Eisenhüttenstadt 2030“ um die Behebung
der Probleme von Abwanderung und
Überalterung der Bevölkerung. Probleme
mit Rassismus gibt es ofziell nicht –
immerhin hat man sich im Zuge des
Aufstands der Anständigen im März des
Jahres 2000 um Lippenbekenntnisse
gegen Rassismus bemüht. Die Stadtverordnetenversammlung
beschloss mit
Zweidrittelmehrheit die Ergreifung „aller
erforderlichen Maßnahmen, um jeder
Art von Diskriminierung in der Stadt
Eisenhüttenstadt entgegenzuwirken“. Übrig
geblieben ist von alldem die Aktion Courage,
die sich momentan vor allem mit
sich selbst beschäftigt. Die Flüchtlinge in
Eisenhüttenstadt leben dort weiter isoliert.
Besuche im Abschiebeknast nden vorrangig
von Berlin oder Frankfurt/Oder aus
statt.
Wir kommen nicht, um uns zu
beschweren!
Gerade weil die Verhältnisse zum Verzweifeln
sind, wollen wir genau dies nicht tun.
In den vier Tagen in Eisenhüttenstadt gilt
es den Verantwortlichen in der Abschiebehaftanstalt
und bei der Ausländerbehörde
zu zeigen, dass sie nicht unbeobachtet
handeln.
Wir wollen Kontakte zu denen herstellen,
die in Eisenhüttenstadt eingesperrt sind. Es
lohnt, sich zu wehren und es lohnt sich,
die Erfahrungen, die anderswo gemacht
wurden, weiterzugeben.
Auch in Eisenhüttenstadt gibt es Einzelne,
die sich mit den Verhältnissen nicht abnden
wollen. Zusammen mit ihnen wollen
wir versuchen, Diskussionen in der Stadt
anzustoßen.
Für die Abschaffung der
Residenzpicht! Schluss mit Abschiebungen! Jeder Mensch hat das Recht, zu leben, wo er will. Für Bewegungsfreiheit.
Anti-Lager-action-Tour:
Gegen Abschiebung und Ausgrenzung,
2. bis 5. September 2004 in Eisenhüttenstadt.