Potsdam - Am heutigen 20. September 2005 sitzt die Potsdamer Antifaschistin Julia S. seit einem viertel Jahr in Untersuchungshaft. Vorgeworfen wird Ihr und weiteren vier Potsdamer Linken ein Mordversuch an einem Neonazi. Ist schon dieser Vorwurf unhaltbar, so ist die Begründung für das Aufrechterhalten der Untersuchungshaft – die da lautet, dass Fluchtgefahr bestehe, weil Julia S. über kein gefestigtes soziales Umfeld verfüge – von eklatanter Realitätsverleugnung gekennzeichnet. Um auf diesen Skandal aufmerksam zu machen und die sofortige Freilassung der jungen Frau zu fordern, übergaben heute Mitglieder des Potsdamer Bündnisses der zuständigen Richterin am Amtsgericht Schilling eine Erklärung, in der sie sich mit Julia S. solidarisieren und ihre sofortige Freilassung fordern. Gleichzeitig nahmen zum wiederholten Male FreundInnen von Julia den Weg zur JVA Duben auf sich, um den Kontakt, der durch lange Postlaufzeiten und seltene Besuchstermine sehr erschwert wird, aufrechtzuerhalten. Mitglieder des Bündnisses MadstoP erklärten: „Julia ist uns bekannt, als engagierte Antifaschistin, die fest in zivilgesellschaftlichen Institutionen in Potsdam eingebunden ist und sich in offener Jugend- und Kulturarbeit engagiert. Sie hat viele FreundInnen, zu denen wir uns auch zählen. Zu behaupten, dass Fluchtgefahr bestehe, weil sie keinen festen Arbeitsplatz hat, ist skandalös. Mit dieser Begründung kann nahezu 5 Millionen Deutschen abgesprochen werden, über ein stabiles soziales Umfeld zu verfügen. Aber vielleicht ist das ja mittlerweile Konsens bei Staatsanwaltschaft und Gericht.“ MadstoP kündigte auch an, in nächster Zeit verstärkt für die Freilassung Julias agieren zu wollen. „Wir werden nicht zulassen, dass ein Justizskandal vertuscht wird, in dem die zuständigen Stellen Julia im Knast ‚vergessen’.“
Erklärung des Bündnis MadstoP
„Freiheit für Julia – Schluss mit der Kriminalisierung von AntifaschistInnen!“
Anlässlich der nun seit drei Monaten andauernden Inhaftierung unserer Freundin Julia verabschiedete das Potsdamer Bündnis MadstoP folgende Erklärung:
Vom 17.–19. Juni diskutierten in Potsdam fast 100 Menschen auf einer Tagung der Lagergemeinschaft Ravensbrück/Freundeskreis e. V. die Perspektiven antifaschistischer Gedenkpolitik. An diesem Wochenende zeigte sich, dass Widerstand gegen faschistische Gewalt in Potsdam derzeit von besonderer Aktualität ist.
Militanter Rechtsextremismus ist im Land Brandenburg seit der Wende ein ernstes Problem. In den vergangenen Jahren gingen von Tätern, die aus ihrer nationalsozialistischen Gesinnung keinen Hehl machten, massive Übergriffe aus. Dabei wurde der Tod der Opfer oft nicht nur billigend in Kauf genommen. Ereignisse wie der grausame Mord an Marinus Sch. in Potzlow zeigen, dass die Tötung von Menschen nicht nur propagiert wird, sondern dass es auch keine Hemmungen gibt, diese auszuführen. Derartige Taten sind als traurige Höhepunkte alltäglicher faschistischer Gewalt zu betrachten. Die Neonazis agieren offensichtlich im Schutz einer Gesellschaft, von der ein großer Teil diese Aktivitäten billigt.
Potsdam erlebte in diesem Jahr rechte Gewalttaten in einer ganz besonderen Intensität. Bis heute sind hier mehr als 30 Übergriffe von Neonazis bekannt geworden. Herausragend dabei: der Angriff von 15 Neonazis auf einen Antifaschisten und dessen Begleiter in der Potsdamer Innenstadt. Aufgrund seines engagierten Auftretens gegen rechtsextreme Gruppen ist dieser in der Nazi-Szene bekannt und verhasst. Bei dem Angriff wurde er mit einer Bierflasche bewusstlos geschlagen, anschließend versuchte ein Nazi auf den Kopf des am Boden liegenden zu springen. Seinem Begleiter wurde mit einer zerschlagenen Bierflasche das Gesicht zerschnitten.
Grund für diese Gewalteskalation ist die Verstärkung, die die neonazistische Vereinigung „Anti-Antifa Potsdam“ durch Berliner Neonazis erhält. Diese sind offensichtlich vor dem höheren Repressionsdruck in Berlin in die Brandenburger Landeshauptstadt ausgewichen. Dort haben sie mit der „Anti-Antifa Potsdam“ Bündnispartner gefunden, die mit Gewalt und der Veröffentlichung von Steckbriefen bekannter AntifaschistInnen von sich reden machten.
Intensiviert wurde die Kooperation der Potsdamer und Berliner Nazis während des sogenannten „Chamäleon-Prozesses“. Drei Potsdamer Nazis standen im Juni vor Gericht. Ihnen wurde vorgeworfen, Silvester 2002/2003 aus einer Gruppe von 50 Menschen heraus einen Brandanschlag gegen das Haus des Jugend- und Kulturvereins Chamäleon e.V. verübt zu haben. Während des Prozesses übernahmen Nazis aus Berlin und Potsdam im wahrsten Sinne die Hausgewalt im Potsdamer Amtsgericht. Zeuginnen wurden eingeschüchtert, es kam zu Beleidigungen, Rempeleien und Schlägen gegen nichtrechte ProzessbesucherInnen. Eine Schulklasse musste am 3. Juni das Amtsgericht verlassen, da die Sicherheit der SchülerInnen vor den Naziattacken nicht gewährleistet werden konnte. Das Haus des Chamäleon e.V. wurde noch einmal versucht anzugreifen, um die dort wohnenden ZeugInnen einzuschüchtern.
Wie reagierten nun in der Stadt Potsdam PolitikerInnen, Institutionen, Polizei, Justiz etc? Angesichts der Gewalt in der Stadt und angesichts dessen, dass auch die Polizei eingestehen musste, von der Situation überfordert zu sein, wäre es wichtig gewesen, dass sich die sogenannte Zivilgesellschaft und die öffentlichen Institutionen vorbehaltlos mit den Opfer der Übergriffe solidarisiert und gemeinsam eine Strategie gegen rechte Gewalt ausgearbeitet hätten. Doch hierzu ist es nicht gekommen.
Am 18. Juni nun soll es zu einem Zusammenstoß zwischen rechten und linken Jugendlichen gekommen sein. In der Nähe des angeblichen Tatortes wurde Julia S. festgenommen. Diese hatte im „Chamäleon-Prozess“ wichtige Aussagen als Zeugin gemacht. Als öffentlich auftretende Antifaschistin ist sie seit langem mit konkreten Gewaltdrohungen von Neonazis konfrontiert. Bei dem Zusammenstoß soll ein einschlägig bekannter 17jähriger Neonazi eine Platzwunde am Kopf davon getragen haben. Dies nahm die Staatsanwaltschaft Potsdam zum Anlass, Julia und vier weitere in diesem Zusammenhang festgenommene AntifaschistInnen wegen versuchten Mordes anzuklagen! Aufgrund dieser Anklage sitzt sie bis heute in der JVA Luckau-Duben in Untersuchungshaft. Die anderen vier Beschuldigten wurden aufgrund ihres jugendlichen Alters unter Auflagen bzw. gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt. Zum Vergleich: Gegen die 15 Neonazis, die den oben genannten Antifaschisten und seinen Begleiter zusammenschlugen, wurden vom Amtsgericht Potsdam lediglich Haftbefehle wegen gefährlicher Körperverletzung erlassen.
Mit der Behauptung, fünf junge AntifaschistInnen hätten einen Mordversuch an einem Neonazi begangen, werden die Verhältnisse in Potsdam und im Land Brandenburg auf den Kopf gestellt. Gewalt, Angriffe, Mordversuche, ja Morde, damit sind im Land Brandenburg jene Menschen konfrontiert, denen aus irgendeinem Grund von Neonazis das Existentenzrecht abgesprochen wird. Die Kriminalisierung jener Menschen, die sich aktiv gegen Neonazismus einsetzen, leistet neofaschistischen Bestrebungen Vorschub. Aktive Gegenwehr gegen den erstarkenden gewalttätigen Neofaschismus wird so diskreditiert, die Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft in Brandenburg gefährdet.
Wir gehen davon aus, dass alle demokratisch und antifaschistisch gesinnten Menschen und Organisationen die Forderung unterstützen: Julia muss raus aus dem Knast, die Ermittlungen wegen Mordversuchs gegen die fünf Antifas müssen eingestellt werden! Dafür
werden wir u.a. am 24. September demonstrieren. Wir hoffen, dass sich gemeinsam mit uns möglichst viele PotsdamerInnen, für die Demokratie und Antifaschismus wichtige Werte sind, der von verschiedenen Antifa-Gruppen organisierten Demonstration anschließen werden.