(Berliner Zeitung, 17.5., Jens Blankennagel) TREUENBRIETZEN. Am 21. April 1945, während die Schlacht um Berlin tobt,
befreit die Rote Armee das Arbeitslager neben der Munitionsfabrik in Treuenbrietzen. Fünfzig Kilometer vor den Toren der untergehenden Reichshauptstadt jubeln ihr 3 000 Zwangsarbeiter zu, darunter 150 Italiener, die sich auf die Rückkehr in ihre Heimat freuen.
Einst hatten die Italiener als Soldaten an der Seite von Hitlers Armeen gekämpft. Doch nachdem die Amerikaner in Sizilien gelandet waren, brach Mussolinis faschistisches Regime 1943 zusammen und Italien wechselte die Seiten. Daraufhin verschleppten die Deutschen 700 000 italienische Soldaten zur Zwangsarbeit — einige auch nach Treuenbritzen. Dort währt die Freude über die Befreiung am 21. April nicht lange.
Schon zwei Tage später sind die deutschen Soldaten zurück: Sie sortieren die Italiener aus, bringen sie mit einigen Zivilisten in einen Wald bei Nichel. 19 von ihnen sollen das Gepäck der Zivilisten tragen und dürfen gehen. Auf
die übrigen 131 wird das Feuer eröffnet. Nur vier überleben das Massaker.
Jahrzehntelang vergessen
Dieses Kriegsverbrechen ist bis heute nicht aufgeklärt. Niemand weiß, welche Einheit damals vor Ort war, wer die Befehle gab, wer geschossen hat. Lange war die Bluttat gar vergessen. Erst als vor einigen Jahren eine italienische
Zeitung über die Überlebenden schrieb, nahm die Staatsanwaltschaft in Ancona die Ermittlungen wieder auf und bat die deutsche Seite um Hilfe. “Zwischenzeitlich waren die Ermittlungsakten bei uns”, sagt Benedikt Welfens von der Potsdamer Staatsanwaltschaft, in deren Zuständigkeit Treuenbrietzen liegt. “Doch wir können die Ermittlungen erst übernehmen, wenn es konkrete Tatverdächtige gibt”, sagt er.
Deshalb gingen die Akten wieder ins baden-würtembergische Ludwigsburg, in die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen. Dort ermittelt Joachim Riedel derzeit. “Wir suchen weiter nach alten Akten”, sagt er. So wurden im
Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde Ermittlungsakten der
Generalstaatsanwaltschaft der DDR aus den 60er-Jahren zu einem Belziger Nebenlager des KZ Sachsenhausen gefunden. In denen steht auch etwas über die Toten von Treuenbrietzen. “Es sind 200 eng beschriebene Seiten”, sagt Riedel. Die habe er als Kopie aber noch nicht vollständig ausgewertet.
Immerhin stieß er dabei auf den Namen eines Mannes, der für die Stasi über Wehrmachtsverbrechen recherchierte. Nun hat Riedel bei der Birthler-Behörde Akteneinsicht beantragt. “Es laufen auch ein Amtshilfeersuchen an die
Staatsanwaltschaft in Ancona und Anfragen bei Interpol”, sagt er. “Die Ermittlungen können aber noch sehr lange andauern, und ob es noch lebende Täter gibt, ist auch nicht klar.”
Der letzte Überlebende
Der Fernsehjournalist Karsten Deventer hat den Überlebenden Antonio Ceseri in Italien besucht. Der berichtet jetzt in einem ZDF-Interview über die Bluttat. Es habe Chaos geherrscht damals, die Fronten lösten sich auf. Die
Russen lagen nur wenige hundert Meter entfernt, als die Italiener von den Deutschen in einen Wald getrieben wurden. “Auf einmal fingen sie an zu schießen. Ich bin gleich hingefallen und von vorne und hinten fielen getroffene Kameraden auf mich drauf”, sagt Ceseri. So sei es auch seinem Freund Edo Magnalardo gegangen. Es sei furchtbar gewesen. “Schüsse, Schüsse, Schüsse, immer nur Schüsse, und dazwischen dann Schreie: Hilfe — Mamma — Viva l Italia und solche Sachen.” Der deutsche Kommandeur habe noch einen
Panzer über die Opfer fahren lassen wollen. Doch der Fahrer habe sich geweigert, weil er zu wenig Benzin hatte. So überlebten einige unter den Leichen. “Natürlich muss ich ständig an diesen entsetzlichen Tag zurückdenken”, sagt Ceseri in dem Interview.
Er und Magnalardo trafen sich jedes Jahr am 23. April und verbrachten den Tag des Massakers gemeinsam. Magnalardo organisierte als Kommunalpolitiker eine Partnerschaft zwischen seinem Heimatort und Treuenbrietzen. 2003 starb
er. Ceseri ist der letzte Überlebende.