Im Prozess um die Ermordung von Marinus Schöberl in Potzlow sind die Urteile gesprochen. Die Täter sind »ganz normale« Rechtsextremisten.
(Jungle World, 45/2003, Jens Thomas) Sebastian F. hat gut lachen. Mit einer Plastiktüte in der einen Hand und einer Zigarette in der anderen verlässt er grinsend den Gerichtssaal. Der 18jährige muss wegen seiner Beteiligung an der Ermordung des 16jährigen Marinus Schöberl im vergangenen Jahr im brandenburgischen Potzlow nur für zwei Jahre nach dem Jugendstrafrecht hinter Gitter, die Haft kann er später antreten. Das Gericht wirft ihm lediglich »gefährliche Körperverletzung« und »Nötigung« vor.
Seinen Mittätern dagegen ist das Lachen vergangen. Regungslos nahmen Marcel S. und sein Bruder Marco S. ihre Urteile entgegen. Der Hauptangeklagte Marcel S., wie Sebastian F. heute 18 Jahre alt und zum Tatzeitpunkt noch minderjährig, wird für acht Jahre und sechs Monate wegen »Mordes« und »schwerer Körperverletzung« in Haft müssen, sein 24jähriger Bruder Marco S. wegen »versuchten Mordes« und »schwerer Körperverletzung« für 15 Jahre.
Die Urteile im Potzlow-Prozess sind am vergangenen Freitag vor dem Landgericht Neuruppin verhängt worden. Bis zu dem Mord war das kleine Dorf Potzlow in der Uckermark ein unbekannter Fleck auf der Landkarte. Das änderte sich, als Marinus Schöberl tot in einer Jauchegrube aufgefunden wurde. In der Nacht zum 13. Juli 2002 brachten die drei nun verurteilten jungen Männer den 16jährigen auf bestialische Weise um. Sie schlugen ihn, sie urinierten auf ihn, und sie zwangen den Jungen, sich als Juden zu bezeichnen. Marcel S. sprang ihm beim »Bordsteinkick« auf den Kopf und warf anschließend zweimal einen Stein auf den Schwerverletzten, bis er tot war.
Im Mai dieses Jahres begann der Prozess gegen die drei Angeklagten. Seitdem versuchten ihre Anwälte stets, das Strafmaß zugunsten der Täter zu mindern. Immer wieder wurde behauptet, die Tat sei nicht politisch motiviert gewesen, von Antisemitismus könne keine Rede sein, Alkohol sei im Spiel gewesen. Der Anwalt des Hauptangeklagten Marcel S. forderte darum maximal acht Jahre, sein Bruder Marco solle mit einer Haft »deutlich unter zehn Jahren« bestraft werden. Sebastian F.s Anwalt wollte gar, dass auf eine Haftstrafe für seinen Mandanten gänzlich verzichtet werde. Stattdessen sollte es lediglich eine »Verurteilung zu Erziehungsmaßnahmen« geben.
Dabei steht fest, dass alle drei Täter Marinus Schöberl als »Juden« beschimpften, ihn als »Untermenschen« und als »nicht lebenswert« verachteten. Denn er stotterte, trug HipHop-Hosen und hatte blondierte Haare. Marco S., der Älteste der drei, war ein stadtbekannter Neonazi, er schlug nur kurze Zeit nach dem Mord einen Mann aus Sierra Leone brutal zusammen. Sebastian F. besaß Nazidevotionalien und rechtsextreme CDs. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Trotzdem soll die Tat in den Augen der Anwälte und auch der meisten Dorfbewohner nicht politisch rechts motiviert gewesen sein. Einer der Anwälte erklärte, Marcel S. habe aus einem »Reflex« gehandelt. Obwohl das Opfer stundenlang gequält wurde. Wie lange soll ein »Reflex« demnach dauern dürfen?
Trotz seiner außergewöhnlichen Grausamkeit ist vieles an dem Mord von Potzlow typisch für das Verhalten rechtsextremer Täter heutzutage. Charakteristisch ist zum Beispiel, dass sie eher als »lose Gesellungen« agieren, wie es der Rechtsextremismusforscher Richard Stöss nennt, mit teilweise diffusen, nicht immer klassisch rechtsextremen Weltbildern. Sie sind kaum noch organisiert, vielmehr handeln sie in gruppendynamischen Prozessen, meist unter Alkoholeinfluss. In über 80 Prozent der rechten Übergriffe spielt Alkohol eine große Rolle, fand der Trierer Soziologe Helmut Willems in einer Studie heraus. Und 90 Prozent der rassistischen Taten werden aufgrund spontaner Entschlüsse begangen; eine ungeplante Situation eskaliert, oder organisierte Rechtsextremisten stiften andere an, ohne dass man sie später als Täter identifizieren kann.
Die Richterin Ria Becher hatte Recht, als sie in der Begründung des Urteilsspruchs sagte, die rechtsextreme Einstellung der Jugendlichen sei ein Tatmotiv gewesen, sie hätten darum aus »niederen Beweggründen« gehandelt. Zu »niederen Beweggründen« zählen ebenso beispielsweise Rachsucht oder Eifersucht.
Der Begriff der »rechtsextremen Tat« ist in jedem Fall irreführend. »Rechtsextremismus« ist ein interner Arbeitsbegriff der Verfassungsschutzämter, kein Rechtsbegriff, und er ist in der Wissenschaft nicht einheitlich definiert. Meist wird er jedoch in Anlehnung an den Verfassungsschutz benutzt, der ihn seit 1974 verwendet.
Dadurch beschränkt sich die Sichtweise meist zu sehr auf den Nachweis der Mitgliedschaft eines Täters in einer rechtsextremen Partei oder Organisation. Ein Verdienst des Bielefelder Erziehungswissenschaftlers Wilhelm Heitmeyer ist es – trotz aller berechtigter Kritik an seinen Studien –, den Blick auf rechte Täter deutlich erweitert zu haben. Heitmeyer spricht bereits von einer rechtsextremen Orientierung, wenn eine »Ideologie der Ungleichheit, Gewaltakzeptanz und Gewaltanwendung« vorhanden ist.
Der Übergang vom »normalen« Dorfjugendlichen zum Rechtsextremisten ist heute oftmals fließend. Darum ist die Argumentation, insbesondere vieler Potzlower Dorfbewohner, es handle sich bei den Verurteilten doch um ganz normale Jugendliche, nicht außergewöhnlich.
In einem Punkt aber hatten die Anwälte der drei Angeklagten Recht: Die Beweggründe seien nicht auf eine politische Tat zu reduzieren, sondern die Ursachen lägen tiefer. Dagegen ist nichts einzuwenden. Auch bei einer Vergewaltigung oder einem Amoklauf spielen immer mehrere Einflüsse eine Rolle. Das hilft allenfalls, eine Tat zu erklären, entschuldigt aber gar nichts.
Der Mord in Potzlow war einer der grausamsten rechtsextremen Morde seit der Wende. Besonders grausam auch deshalb, weil die Täter sich ihr Opfer gewissermaßen selbst gestalteten. Marinus Schöberl war ein guter Bekannter der Mörder, und wenn die Feindbilder, die von der Gesellschaft mitproduziert werden, fehlen – in Potzlow gibt es so gut wie keine Migranten –, dann schafft man sich eben eigene. Marinus Schöberl wurde das zum Verhängnis.