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Der letzte Strohhalm

Auf der Suche nach einem Mörder lässt die Polizei fast eine halbe Stadt zum
Gen­test antreten

(MAZ) HERZBERG Lutz B. hat den 8. Sep­tem­ber 1994 noch genau in Erin­nerung. Er war
auf dem Weg von Herzberg (Elbe-Elster) ins säch­sis­che Tor­gau, hat­te gerade
die Lan­des­gren­ze in den Freis­taat über­quert, als er abbrem­sen musste. “Eine
Wagenkolonne tauchte auf und ring­sum im Wald waren mehr Polizis­ten als Bäume.”
Was der Apotheke­nangestellte nicht wusste: In dem Wäld­chen hat­te ger­ade ein
Ver­brechen seinen Aus­gang genom­men, das die Region erschüt­tern sollte: Der Mord
an der 17-jähri­gen Antje Köh­ler und ihrer nur 18 Monate alten Cou­sine Sandy
Hoff­mann. Drei Wochen später fand ein Spaziergänger die stark verwesten
Leichen der bei­den in einem Wald bei Hamburg. 

Gestern machte sich Lutz B. auf den Weg in die ent­ge­genge­set­zte Richtung,
nach Herzberg: Als frei­williger Teil­nehmer an einem der größten
Massen-DNA-Tests in der deutschen Krim­i­nal­itäts­geschichte. Der Gen­test soll — neun
Jahre
nach der Tat — endlich Klarheit schaf­fen, wer die Mäd­chen auf dem Gewis­sen hat. 

Bis Son­ntag sind alle Män­ner der Jahrgänge 1949 bis 1974, die zum fraglichen
Zeit­punkt im Umkreis des Tatorts wohn­ten, aufge­fordert, im Herzberger
Rathaus eine Spe­ichel­probe abzugeben — das sind gut 2600 Herzberg­er. Der Massentest
ist die let­zte Chance, die Gewalt­tat aufzuk­lären. “Son­st müssen wir die
Ermit­tlun­gen ein­stellen”, sagt der Tor­gauer Kripo-Chef Thomas Frenzel,
“jeden­falls bis es neue Hin­weise gibt.” Doch woher soll­ten die kom­men nach so langer
Zeit? 

Bis zum heuti­gen Tag tappt die Son­derkom­mis­sion “Wald” im Dunkeln. Es hatte
sich aber auch alles gegen sie ver­schworen. Zuerst hat­te es eineinhalb
Stun­den gedauert, bis Sandys Mut­ter vom Pilze­suchen zu ihrem Wagen zurück­kehrte, in
dem die ältere Cou­sine auf das Kleinkind auf­passen sollte. Da war der Täter
wohl schon über alle Berge. Die Such­mannschaften tram­pel­ten anschließend auf
möglichen Spuren herum, weil die Ein­sat­zleitung immer noch davon aus­ging, die
Kinder hät­ten sich ver­laufen. Wer rech­net an der Schwarzen Elster schon mit
einem Doppelmord? 

Und dann kam der Regen, ein regel­rechter Wolken­bruch. Sturm­böen fegten über
das Wäld­chen und ris­sen Äste ab. Der Alb­traum jedes Spuren­sicher­ers. Als die
Leichen dann gefun­den wur­den, lagen sie schon so lange im Freien, dass es
schwierig war, ein­deutige Hin­weise auf den Tatver­lauf zu find­en. Wie die Toten
nach Nord­deutsch­land kamen, ist eben­falls ein Rät­sel. Bis­lang wis­sen die
Fah­n­der nicht ein­mal, wie die 17-Jährige ums Leben gekom­men ist, oder ob sie Opfer
eines Sex­u­alver­brechens wurde. Nur eins ist sich­er: Ihre kleine Cousine
wurde erdrosselt. 

Das Bun­deskrim­i­nalamt sah sich erst 2001 in der Lage, ein Täter­pro­fil zu
erstellen. Es dauerte sog­ar bis 2002, ehe mit Hil­fe verbessert­er Tech­nik aus dem
mageren Beweis­ma­te­r­i­al vom Tatort ein genetis­ch­er Fin­ger­ab­druck des
möglichen Täters erstellt wer­den kon­nte. Mit Pro­fil und Gen­code bewaffnet, nahm die
Polizei den längst ver­loren geglaubten Faden wieder auf. 

Lutz B., der damals Zeuge der Suchak­tion gewor­den war, passt auf das Profil.
Richtiges Alter, richtiger Wohnort. Erst gestern früh hat er im Radio den
Aufruf gehört. “Frei­willig melden ist gut”, sagt er, “ich möchte sehen, was mit
denen passiert, die nicht hinge­hen.” Und so ist er in der Mit­tagspause ins
Herzberg­er Rathaus geeilt, drei Trep­pen hoch bis unter das Balken­werk des
Renais­sancegiebels, hat seinen Ausweis vorgezeigt und dann an einem der fünf
Tis­che Platz genom­men, auf dem die durch­sichti­gen Tüten mit den Plastikröhrchen
liegen. Der Tester beste­ht aus einem lan­gen Wat­testäbchen, mit dem man sich
von innen an der Backe ent­lang stre­icht. Ein paar Fet­zen der hauchdünnen
Mund­schleimhaut bleiben immer hän­gen. Mehr als aus­re­ichend, um das genaue
genetis­che Pro­fil eines Men­schen zu entschlüsseln. 

Dann noch schnell rüber zu den Tis­chen mit den Stem­pelkissen, denn einen
herkömm­lichen Fin­ger­ab­druck nehmen die Soko-Beamten auch. Allerd­ings hat ihnen
der Mörder eine verzwick­te Auf­gabe hin­ter­lassen: Er ver­ri­et sich nur durch den
Abdruck ein­er Fin­ger­seite. Und deshalb rollt der Beamte Lutz B.s schwarze
Fin­ger auch fast ganz­seit­ig auf den Vordruckbogen. 

Alles in allem dauert die Proze­dur nicht länger als zehn Minuten. Ganz wohl
war Lutz B. nicht, als er das Rathaus betrat. “Ein biss­chen blödes Gefühl,
zum Kreis der Verdächti­gen zu gehören”, gibt er zu. 

Bedenken, die andere mit ihm teilen — etwa Diet­mar Brettschneider,
Bürg­er­meis­ter der kleinen Stadt Jessen im angren­zen­den Sach­sen-Anhalt. Er weigerte
sich, den säch­sis­chen Fah­n­dern Per­so­n­en­dat­en Verdächtiger auszuhändi­gen — aus
Grün­den des Daten­schutzes und weil er nie eine offizielle Anfrage der
anhal­tinis­chen Staat­san­waltschaft erhal­ten haben will. Der Bürg­er­meis­ter halte seine
schützende Hand über Kindsmörder, titelte sin­ngemäß eine Boule­vardzeitung. Nun
hat die Kom­mu­nalauf­sicht Brettschnei­der ver­don­nert, die Informationen
her­auszurück­en, und die Proben haben bere­its begonnen. Keine Frage — die Bluttat
und ihre Fol­gen peitschen auch nach fast einem Jahrzehnt noch die Emotionen
hoch im Dreiländereck. 

Und deswe­gen ste­hen die Fah­n­der unter großem öffentlichem Druck. Von 10 000
Proben aus den drei beteiligten Bun­deslän­dern sind schon 8000 ausgewertet.
Ergeb­nis: neg­a­tiv. Rund 6000 sollen in den näch­sten Wochen hinzukom­men. Dass
ihnen der Richtige ins Netz gehen kön­nte, hal­ten die Ermit­tler immer noch für
möglich. Der soziale Druck ist ger­ade auf dem Land groß”, sagt der Torgauer
Kripo-Chef Thomas Fren­zel. “Wenn der Nach­bar fragt: Warst du schon?, ist es
schw­er, sich zu entziehen.” Wer kneift, macht sich verdächtig. Für diese
Kan­di­dat­en — von denen etliche offen­bar nur befürcht­en, eine bis­lang vertuschte
Vater­schaft könne auf­fliegen — wer­den die Fah­n­der staat­san­waltliche Vorladungen
beantra­gen. Und dann wäre Schluss mit dem frei­willi­gen Test. 

Genetis­ch­er Fingerabdruck

Bei Sex­u­al­straftat­en und Kap­i­talde­lik­ten wie Mord gehört am Tatort
sichergestelltes Gen­ma­te­r­i­al zu den wichtig­sten Spuren. Um einen genetischen
Fin­ger­ab­druck effek­tiv auszuw­erten, wurde im April 1998 beim Bun­deskrim­i­nalamt eine
zen­trale DNA-Datei ein­gerichtet. Dort wer­den Tatort­spuren unbekan­nter Täter
sowie DNA-Muster bekan­nter Per­so­n­en gesam­melt und ver­glichen. Gespe­ichert werden
dür­fen nur Dat­en von Per­so­n­en, die Straftat­en von erhe­blich­er Bedeutung
bege­hen und als Wieder­hol­ungstäter gelten. 

Die Lan­deskrim­i­nalämter stellen monatlich etwa 7000 neue Daten­sätze in die
BKA-Datei ein. Von den 260 000 Daten­sätzen ent­fall­en etwa 220 000 auf Personen
und knapp 40 000 auf Tatort­spuren. Bran­den­burg hat bish­er 5204 Per­so­n­en- und
1171 Spuren­dat­en in die Sam­mel­datei eingestellt. Dabei ergaben sich 408
Tre­f­fer. Ein Tre­f­fer liegt vor, wenn unbekan­nte Tatort­spuren übere­in­stim­men oder
sich eine Tatort­spur mit einem bekan­nten Per­so­n­en-DNA-Muster deckt. 

Bun­desweit kon­nten im vorigen Jahr 135 Sex­u­al­straftat­en und 66
Tötungs­de­lik­te per DNA-Abgle­ich aufgek­lärt wer­den. Zahlen für Bran­den­burg liegen nicht
vor. 

Bran­den­burg sucht den Doppelmörder

Polizei fordert 5000 Män­ner im Elbe-Elster-Kreis zu Gen­tests auf — Blut­tat geschah vor neun Jahren

(BM) Herzberg — Chefer­mit­tler Thomas Fren­ze aus dem säch­sis­chen Tor­gau und seine
Kol­le­gen haben die Hoff­nung auch nach neun Jahren nicht aufgegeben: Sie
wollen den mys­ter­iösen Dop­pel­mord an der 17-jähri­gen Antje Köh­ler und deren erst
anderthalb Jahre alten Cou­sine Sandy aufk­lären. 5000 Bran­den­burg­er Män­ner im
Alter zwis­chen 29 und 54 Jahren, die als Täter in Frage kom­men könn
ten, sind
deshalb seit gestern aufgerufen, Spe­ichel­proben abzugeben. “Das ist unsere
let­zte Chance, den Mörder von Antje und Sandy doch noch zu find­en”, sagte Frenze
im Rathaus von Herzberg im Kreis Elbe-Elster. 

Die bei­den Mäd­chen sind am 8. Sep­tem­ber 1994 an der viel befahrenen
Bun­desstraße 87, die Sach­sen mit Bran­den­burg verbindet, von einem bis heute
unbekan­nten Täter ent­führt wor­den. Sie woll­ten in einem Wald­stück bei Zwethau (Kreis
Tor­gau-Oschatz) Pilze suche, es war hel­l­lichter Tag. Drei Wochen später wurden
ihre Leichen im 400 Kilo­me­ter ent­fer­n­ten nieder­säch­sis­chen Buch­holz (Kreis
Har­burg) gefun­den. Trotz Auswer­tung von 26 000 Spuren und Zeu­ge­naus­sagen gibt
es bis heute kein Ergeb­nis. Den­noch sagt der Kripo-Mann aus Tor­gau: “Solange
die Chance, den Mörder zu find­en, auch nur ein Prozent beträgt, machen wir
weit­er.” Die gestern begonnenen Ermit­tlun­gen sind der erste länderübergreifende
Mas­sen­gen­test in Deutsch­land. Auf säch­sis­ch­er Seite haben 10 000 Männer
Spe­ichel­proben abgegeben. Nun sind 5000 Bran­den­burg­er der Jahrgänge 1949 bis 1974
dran. Wer nicht zur Unter­suchung komme, werde dazu aufge­fordert, so eine
Beamtin. Ver­weigert er auch dann den frei­willi­gen Test, kann die
Staat­san­waltschaft die Unter­suchung beim Gericht beantragen. 

Im his­torischen Herzberg­er Rathaus beobachtet Fren­ze die akribis­che Arbeit
sein­er 20 Beamten. Sie über­prüfen die Per­son­alien, klären auf, zerstreuen
Bedenken der Proban­den. “Einige sind schon nervös, wenn sie in so ein Raster
ger­at­en”, sagt ein Beamter. 

Bis Dien­stag sollen sich allein aus Herzberg 2600 Män­ner ein­er Speichelprobe
unterziehen. Außer­dem wer­den die Fin­ger­ab­drücke abgenom­men. Denn auch die
hat der Täter am Tatort hin­ter­lassen. Doch kein­er weiß, wem sie zuzuord­nen sind
— nur eins ste­ht fest: Sie stam­men vom Mörder.

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