Wer ist Enrico H.? Der 26-Jährige will gehört haben, wie einer der
Angeklagten des Potzlow-Prozesses den Mord an Marinus Schöberl ankündigte
(Tagesspiegel, Frank Jansen) Neuruppin. Die Überraschung ist groß, das Rätselraten noch größer: Kann der
ominöse neue Zeuge dem Potzlow-Prozess in letzter Minute einen neuen Dreh
geben — oder ihn gar zum Platzen bringen? Nachdem sich am vergangenen
Freitag der Anwalt des in Berlin inhaftierten Enrico H. beim Landgericht
Neuruppin gemeldet hat, sind in Justizkreisen widersprüchliche Äußerungen zu
hören. Da ist von einer möglichen “Luftnummer” die Rede, aber es wird auch
nicht ausgeschlossen, dass der Zeuge H. neue Hintergründe zum Mord an dem
16-jährigen Marinus Schöberl präsentiert. So ist für den heutigen Donnerstag
offenbar ein besonders spannender Prozesstermin zu erwarten — obwohl das
zunächst angekündigte Urteil ausfällt.
Der Templiner Anwalt Dietrich Schmidt hatte am Freitag bei der Strafkammer
angerufen und mitgeteilt, sein Mandant Enrico H. habe im Sommer 2000 am
Lübbesee (Uckermark) eine Äußerung des Angeklagten Marco S. gehört. Dieser
soll gesagt haben, er wolle Marinus Schöberl umbringen. Bislang war von
Todesdrohungen nichts bekannt.
Marco S. hat zwei Jahre später, in der Nacht zum 13. Juli 2002, laut
Staatsanwaltschaft die tödliche Folter begonnen. Er habe Schöberl gezwungen,
sich als “Jude” zu bezeichnen. Es folgten stundenlange Schläge und Tritte,
an denen sich neben Marco S. sein Bruder Marcel und Sebastian F.
beteiligten. Schließlich musste Schöberl in einem ehemaligen Schweinestall
im Dorf Potzlow in die Kante eines Betontrogs beißen. Marcel S. sprang dann
mit beiden Beinen auf den Hinterkopf des Jugendlichen. Diese Tortur, nach
dem grausigen Muster eines “Bordsteinkicks” aus dem US-Film “American
History X”, überlebte Schöberl nicht.
Marcel S. hat den Sprung zugegeben, aber einen Vorsatz verneint und von
einem “Blackout” gesprochen. Sollte der neue Zeuge nun glaubhaft darstellen
können, dass Marcels Bruder Marco zwei Jahre vor der Tat eine Todesdrohung
gegen Marinus Schöberl aussprach, erschiene ein lange geplanter Mord der
beiden Brüder möglich — statt eines “Blackout”.
Wer ist dieser plötzlich aufgetauchte Zeuge? In Sicherheitskreisen heißt es,
Enrico H. sei selbst als rechter Schläger aufgefallen. Der 26 Jahre alte
Mann aus Templin sitzt in der JVA Tegel eine achtmonatige Haftstrafe ab,
unter anderem wegen Körperverletzung. Unklar bleibt, ob H. mit den Brüdern
Marco und Marcel S. bekannt war oder nur zufällig am Lübbesee eine
Morddrohung aufschnappte. Es ist außerdem fraglich, dass Marco S. die üblen
Worte von sich gab, denn er saß im Sommer 2000 in Haft. Ob er Ausgang hatte,
ist noch nicht geklärt. Möglicherweise hat der Zeuge auch Marco S. mit
seinem Bruder Marcel verwechselt. Und dann bleibt noch die Frage, warum sich
Enrico H. erst jetzt gemeldet hat, beinahe fünf Monate nach dem Beginn des
in den Medien stark beachteten Potzlow-Prozesses. Der Anwalt von H. gab
gestern nur eine karge Antwort: “Ich stecke in meinem Mandanten nicht drin.”
Wie der Verteidiger von Marco S. die neue Lage bewertet, war gestern nicht
zu erfahren. Der Anwalt von Marcel S., Volkmar Schöneburg, hält die Angaben
des neuen Zeugen für unglaubwürdig. Gelassen äußerte sich der Verteidiger
von Sebastian F., Ulrich Drewes. Die Vernehmung des Zeugen, meint Drewes,
“wird kaum Einfluss auf den Ausgang des Verfahrens haben”.