Zahl der Kriegsdienstverweigerer in der Region sinkt durch geringeren Bedarf an Wehrpflichtigen
(Neues Deutschland, Rainer Funke) Die letztendlichen Zahlen liegen bei der Wehrbereichsverwaltung Ost in Strausberg noch nicht vor, aber nach einer Hochrechnung haben sich im vorigen Jahr 12600 Berliner und Brandenburger dem Wehrdienst verweigert. Das waren etwa 1000 weniger als 2003.
Für die hauptstädtische Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär ist der Trend deutlich: Seit geraumer Zeit werden weniger Rekruten bei der Bundeswehr benötigt und deshalb auch immer weniger einberufen. Dadurch sehen sich heutzutage weniger Wehrpflichtige veranlasst, den Kriegsdienst zu verweigern.
Die Gefahr, einrücken zu müssen, wird kleiner und kleiner, sagt Sprecher Michael Behrendt. Das erscheint auch logisch: Die Bundeswehr ist wegen ihrer Ausrichtung auf Kriegs- und Kriseneinsätze fern der Heimat zunehmend auf hochspezialisierte Kämpfer angewiesen – der nur wenige Monate und eher dürftig ausgebildete Rekrut wird zunehmend überflüssig.
Dabei handelt es sich laut Kampagne um eine bundesweite Tendenz. Im Januar 2004 wurden beispielsweise 18600 Wehrpflichtige eingezogen, im Oktober noch 19500. Wer einrücken muss, der ist mehr vom Zufall ausgewählt worden. Er zählt zu den 15 Prozent der Wehrpflichtigen, die alljährlich überhaupt noch zum Militär befohlen werden. Selbst von den tauglich Gemusterten, die keiner Ausnahmeregelung unterliegen oder als Zivi dienen, trifft es lediglich 47 Prozent. Da werde Wehrgerechtigkeit mehr und mehr zur Karikatur, auch wenn das Bundesverwaltungsgericht es letzte Woche anders gesehen hat, wie Behrendt sagt.
Derweil eröffnen die inzwischen festgeschriebenen Regelungen rings um die Wehrpflicht Möglichkeiten wie kaum zuvor, dem Rekrutenleben zu entgehen, ohne auch nur mit einem einzigen Gesetz in Konflikt zu kommen. Wer unter Problemen mit dem Knie- oder der Wirbelsäule leidet, eine Zahnspange oder ein künstliches Gebiss hat, schwer hört, schlecht sieht oder von anderen gesundheitlichen Sorgen geplagt ist, scheidet aus dem Militärkader a priori aus. Allein durch diese Untauglichkeitsregel fallen 35 Prozent bei der Vorauswahl durch. Auch Männer, die über 23 Jahre alt sind oder in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben. Verheiratete werden ebenso verschont wie Väter mit Sorgerecht.
Trotz der anhaltenden Wehrpflicht-Erosion legen die Kreiswehrersatzämter gelegentlich zugleich eine harte Gangart ein. Zum Beratungstermin in die Kampagne kommen derzeit gehäuft Leute, die lange arbeitslos waren und es endlich geschafft haben, einen Job zu bekommen. Sie seien froh, dass Hartz IV nicht vor der Tür steht und würden dennoch rücksichtslos eingezogen, so Behrendt. Hier stelle sich die Situation auf den Kopf, weil die Beamten und Sachbearbeiter ihre Spielräume geradezu demonstrativ nicht ausnutzen. So werde das Ganze immer ungerechter.
Das neue Personalstrukturmodell der Bundeswehr sieht vor, dass demnächst nur noch 9 Prozent des Armeepersonals aus Grunddienstleistenden bestehen soll. Das dürfte die Ungerechtigkeiten weiter vertiefen. Da sich alles an Kosten orientiert, haben sich jetzt Militärgegner vorgenommen, die Wehrpflicht ein wenig zu verteuern: Hier kommt ein Brief nicht an und muss erneut geschickt werden, dort wird ein Termin verschoben, reagiert keiner auf die erste Aufforderung zur Musterung oder man entschuldigt sich.
Bei 415000 als wehrpflichtig erfassten jungen Männern pro Jahr häufelt das eine Unmenge Arbeit auf, die alsbald als unverhältnismäßig auffallen dürfte. Nicht allein die anhaltende Debatte, sondern auch der kostenträchtige Aufwand könnte in überschaubaren Zeiträumen zum Ende der Wehrpflicht führen, heißt es bei der Kampagne.
Für sie kam das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes nicht überraschend. Die deutsche Rechtsprechung habe die Wehrpflicht in den vergangenen Jahren nie in ihrer Substanz angegriffen und den Ball immer wieder an die Politik zurückgespielt. Gerade deswegen ist man sich sicher, dass es sich bei der Wehrpflicht um ein Auslaufmodell handelt, wenn auch eines mit einem gewissen Beharrungsvermögen.