Bürgerinitiativen wollen in den Landtag /
Viele Kandidaten sind nur in ihren Familien bekannt
(Berliner Zeitung, Jürgen Schwenkenbecher) POTSDAM. Die Umfragen vor der Landtagswahl in Brandenburg, die zuletzt
mehrmals wöchentlich veröffentlicht wurden, haben für die Geschäftsfrau
Marianne Spring aus Cottbus nur einen sehr beschränkten Aussagewert. Das
liegt nicht an den unzuverlässigen Angaben bei Umfragen schlechthin oder
dem vorhergesagten Höhenflug der PDS. Marianne Spring vermisst in den
Angaben die Allianz freier Wähler (AfW), deren Spitzenkandidatin sie
ist. “Wegen der Fragetechnik werden wir wohl nicht wahrgenommen”,
mutmaßt Frau Spring. “Denn fünf Prozent plus x bekommen wir ganz sicher.”
Der Zweckoptimismus der im Land noch unbekannten Wahlkämpferin gründet
sich auf die vier oder fünf Prozent der Brandenburger, die am 19.
September “Sonstige” wählen wollen, und auf die mindestens 25 Prozent
der noch unentschlossenen Wähler, die die Meinungsforschungsinstitute
jeweils ausmachten. Ihre Zuversicht teilt Spitzenkandidatin Spring mit
vier weiteren Wählerbündnissen, die die großen und kleinen Parteien am
19. September gleichermaßen das Fürchten lehren wollen. Die nicht
sonderlich erfolgreiche Bilanz der SPD/CDU-Koalition erleichtert ihr
Agieren. Aber am meisten stehen sie sich selbst im Wege — durch ihre
Zersplitterung.
Denn dass das Potenzial der mit der großen und kleinen Politik
Unzufriedenen groß ist, zeigte sich bei den Kommunalwahlen im
vergangenen Herbst. Jeder sechste Brandenburger, der seinerzeit zur Wahl
ging, entschied sich für lokale Bürgerbündnisse — so viel wie noch nie.
In einzelnen Orten kamen die Initiativen auf ein Drittel aller Stimmen,
weit mehr als die etablierten Parteien. Manchmal ist es nur die
allgemeine Unzufriedenheit, die den neuen Gruppen Zulauf beschert. Doch
häufig sorgen auch handfeste mehr oder weniger regionale Streitpunkte
für die ungewöhnliche Parteinahme auf dem Wahlzettel — wie die
Anti-Windkraft-Bewegung “Rettet die Uckermark”, die zur Kommunalwahl
10,6 Prozent erreichte.
Doch das erklärte Ziel der bis zu hundert Wählergruppierungen, nun auch
auf Landesebene den Durchbruch zu schaffen, scheiterte vermutlich schon
im Vorfeld. Unter gegenseitigen Vorwürfen gründeten sich im Winter mit
der Allianz freier Wähler (AfW) und der Allianz Unabhängiger Bürger
(AUB) gleich zwei Dachverbände. Zum AUB gehören auch die Gegner des
Flughafenausbaus in Schönefeld — ein beachtliches Wählerpotenzial
südlich Berlins, das sich von den Parteien verraten fühlt. Mit 10 000
Plakaten und 500 000 Flyern bestreitet die AUB ihren Wahlkampf.
Ohne Sympathieträger
Auf den Wahlzetteln vertreten ist auch die Initiative 50 Plus, die jetzt
Montagsdemos in Schwedt organisiert. Eine ihrer Forderungen: Politik
darf nicht zum Beruf werden. Im ganz rechten Spektrum beheimatet sind
die Gruppen Pro Brandenburg/Bürger rettet Brandenburg (BRB) und Ja zu
Brandenburg.
Das schön klingende Motto der AUB — Bürgerkompetenz statt Parteienfilz -
haben sinngemäß alle Wählerinitiativen auf ihre Fahnen geschrieben.
Politikwissenschaftler wie der Potsdamer Bernhard Muszynski sehen jedoch
als Hauptproblem, dass die Gruppierungen “keine Personen haben, mit
denen man sich identifizieren kann”. Ihnen fehlen bekannte
Führungsfiguren als Sympathieträger. Tatsächlich sind die Kandidaten
mitunter kaum mehr als in der eigenen Familie bekannt, selbst wenn sie
seit Jahren in der Kommunalpolitik aktiv sind.
Dafür wird heftig polemisiert — in Brandenburg angesichts gescheiterter
Großprojekte, Massenarbeitslosigkeit und hoher Landesverschuldung ein
leichtes Unterfangen. Dazu kommen populistische Forderungen, von der
Abschaffung des Schornsteinfegermonopols (AfW) bis zur Kürzung der
Ministergehälter (50 Plus). Alle beklagen den fehlenden Sachverstand der
Parteipolitiker. Die AUB versteht sich als “Selbsthilfeorganisation”.
“Den Parteien in Brandenburg fehlt einfach Kompetenz in den
Führungsriegen”, urteilt Sven Pautz, Spitzenkandidat der AUB. Seine
Cottbusser Bürgerinitiative holte bei der Kommunalwahl im Oktober auf
Anhieb 14 Prozent der Stimmen, mehr als Grüne und FDP zusammen.
“Das Staatswesen braucht neue Strukturen”, beschwört
AfW-Spitzenkandidatin Spring, 57 Jahre alt, die Brandenburger. “Nichts
gelingt mehr in diesem Land”, stellt auch 50 Plus in einem
“Patriotischen Aufruf” fest. Wobei 50 Plus nicht etwa für die gewünschte
Klientel steht, sondern für das langfristige Wahlziel, natürlich in
Prozent: “Die Stimmung hier ist überreif für einen politischen Erdrutsch.”
Das Ziel zu erreichen wird allerdings nicht ganz einfach. Zur
Landtagswahl vor fünf Jahren vereinigte die Freie Wähler-Gemeinschaft
BFWG als seinerzeit stärkste Nicht-Partei genau 7 008 Stimmen auf sich -
0,64 Prozent aller Wähler.