(Jörg Schindler) Die Stimmen sind verzerrt, ganze Sätze kaum auszumachen. “Blödes Schwein”, meint man einmal zu hören und kurz darauf: “Du Nigger.” Eine Stimme fragt: “Warum sagst du Nigger zu mir?” Dann wieder der andere: “Wir machen dich platt!” Dann erstirbt das Gespräch.
Es ist vier Uhr am Ostersonntag, als diese denkwürdigen Wortfetzen durch die Nacht von Potsdam hallen. Dass sie überhaupt dokumentiert sind, ist einem Zufall zu verdanken: Der 37-jährige Ermyas S. hatte gerade auf die Mailbox seiner Frau gesprochen, als er von zwei offenbar rechtsextremistischen Tätern attackiert wurde. Was genau an der Straßenbahnstation Zeppelinstraße im Anschluss geschah, lag bis Dienstagabend weitgehend im Dunkeln. Von den Tätern fehlte zunächst jede Spur. Das Opfer ist nicht ansprechbar: Ermyas S. liegt mit Schädelhirntrauma, etlichen Rippenbrüchen und weiteren schweren Verletzungen in der Potsdamer Ernst-von-Bergmann-Klinik. Um seinen Zustand zu stabilisieren, haben ihn die Ärzte in ein künstliches Koma versetzt. Ob er je wieder ganz gesund wird, weiß niemand mit Gewissheit zu sagen.
Serie rechtsextremer Gewalt
Wieder einmal Ostdeutschland, wieder einmal Brandenburg. So wenig die Ermittler bis Dienstagabend über den genauen Tathergang wussten, so klar war allen: Der Fall Ermyas S. reiht sich nahtlos ein in eine Serie rechter Gewaltexzesse in dem Bundesland, die 1990 mit dem Mord am Angolaner Antonio Amadeo begann und 1999 mit der tödlichen Hetzjagd auf den Algerier Farid Guendoul noch lange nicht endete. Wie diese beiden hatte der aus Äthiopien stammende Ermyas S. das Pech, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Wie diese beiden wurde der Wasserbauingenieur, der seit Jahren deutscher Staatsbürger ist, offenkundig nur deswegen Ziel eines Angriffs, weil er aus Sicht dumpfer Deutschtümler die falsche Hautfarbe hat.
Rechtsextremismus
168 rechtsextremistische Gruppen oder Organisationen gab es Ende 2004 nach Erkennissen des Verfassungsschutzes in Deutschland. Sie zählten rund 40 700 Mitglieder, rund 10 000 davon wurden als tatsächlich gewaltbereit eingeschätzt. In rechtsextremistischen Parteien (Die Republikaner, Deutsche Volksunion DVU, Nationaldemokratische Partei Deutschlands NPD) waren laut Verfassungschutz 2004 rund 23 800 Personen organisiert.
Das Internet ist das wichtigste Kommunikationsmittel für Rechtsextremisten, und zwar sowohl zur Selbstdarstellung nach außen als auch zur szeneinternen Verständigung. Das betrifft sowohl Homepages von Rechtsextremisten als auch interaktive Bereiche, etwa Diskussionsforen. Die Zahl der von deutschen Neonazis betriebenen Homepages im Internet beziffert der Verfassungsschutz auf 950 (2004).
Die Skinhead-Musikszene wird von den Verfassungsschützern als entscheidender identitätsstiftender Faktor für Neonazis bewertet. Die Texte sind oft rassistisch, antisemitisch und gewaltverherrlichend. Im Jahr 2004 wurden vom Bundesamt für Verfassungsschutz 137 entsprechende Konzerte registriert sowie 106 Musikgruppen und 60 Vertriebsorganisationen für CDs mit Skinhead-Musik. FR
Wie ernst die Behörden den Fall nehmen, zeigt die Tatsache, dass inzwischen die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen übernommen hat. Deren wichtigster Zeuge ist bislang ein Taxi-Fahrer, der um kurz nach vier den Tatort passierte und dabei zwei Gestalten wahrnahm, die sich über den am Boden liegenden Ermyas S. beugten. Eine davon, so der Fahrer, sei etwa 30 Jahre alt, beinahe kahl rasiert und hoch gewachsen; die zweite eher schmächtig und blond — womöglich eine Frau. Da auch die Stimmen auf der Handy-Mailbox nicht zweifelsfrei einem Geschlecht zuzuordnen sind, geht die Polizei davon aus, dass sie es entweder mit zwei Männern oder einem Pärchen zu tun hat. Ermittelt wird wegen versuchten Mordes aus niederen Beweggründen.
Die Potsdamer reagierten geschockt auf diesen “besonders krassen, extremen Einzelfall”, so die Staatsanwaltschaft. Bereits am Vorabend hatten sich rund 500 Einwohner der Landeshauptstadt am Tatort versammelt, um gegen rechte Gewalt zu demonstrieren. Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD) kündigte die Gründung eines Aktionsbündnisses gegen Rechtsextremismus an. Mit dem Fall Ermyas S., sagt Jakobs, habe die Brutalität und Skrupellosigkeit der rechten Szene eine “neue Qualität” erhalten.
Brutale Kameradschaften
Tatsächlich hat die 130 000-Einwohner-Stadt in den vergangenen zwölf Monaten “eine Reihe brutaler Übergriffe” von Rechtsextremisten erlebt, so Ole Weidmann vom Verein Opferperspektive. Dazu zählte ein Vorfall im Sommer 2005, als eine Gruppe vermummter Neonazis die Notbremse einer Straßenbahn zog, um draußen zwei vermeintlich linke Jugendliche krankenhausreif zu prügeln. Den Tätern wurde erst jüngst der Prozess gemacht.
Im Dezember sorgte in Potsdam eine Demonstration für Furore, die der Neonazi-Aktivist Christian Worch angemeldet hatte. Zudem glauben Szenekenner, dass die Stadt zusehends zum Aufmarschgebiet brutaler Kameradschaften wie “Thor” wird, seit das benachbarte Berlin verstärkt gegen deren Umtriebe vorgeht.
Gleichwohl habe Potsdam bislang nicht zu den Zentren rechter Gewalt gehört, betont Weidmann. Im Gegenteil: Gerade weil die Stadt über ein dichtes Netz an Beratungsorganisationen verfüge, sei sie bislang unter Migranten vergleichsweise beliebt gewesen. Inwieweit der Fall Ermyas S. daran etwas ändern werde, lasse sich überhaupt noch nicht absehen. “Aber das hat natürlich Wirkung”, sagt Weidmann. Und sei es nur die, dass sich manche Einwohner Potsdams künftig noch genauer überlegen würden, “zu welcher Zeit sie mit welcher Straßenbahn wohin fahren”.