ORANIENBURG Es ist ein Wiedersehen nach neun Jahren. 1995 war Salomon Feldberg das
letzten Mal in Oranienburg. Auch gestern hatte der 77-Jährige die
beschwerliche Reise aus Buenos Aires in Kauf genommen: “28 Stunden waren wir
unterwegs.” Zusammen mit seiner Frau Mathilda ist er nach Sachsenhausen
gekommen. Freude schwingt mit. Er trifft alte Freunde, die sein
schreckliches Los der Inhaftierung im KZ geteilt haben. Salomon Feldberg war
mit auf dem Todesmarsch “bis Parchim”, erinnert er sich.
Der alte Herr aus Argentinien war einer von rund 300 Besuchern, die gestern
zur Eröffnung der Ausstellung “Medizin und Verbrechen — Das Krankenrevier
des KZ Sachsenhausen 1936 bis 1945” in die Gedenkstätte gekommen waren.
“Niemand kann die Verwandlung einer helfenden in eine mordende Medizin
besser schildern und bezeugen als Sie”, dankte Stiftungsdirektor Günter
Morsch den Zeitzeugen, die auch aus Hamburg, Frankreich, Israel, Norwegen
und den USA angereist waren. Im Vordergrund der Dauerausstellung steht die
Biographie von rund 100 Häftlingen, ihre Schicksale im KZ, sei es als
Pfleger, Patient, Versuchsopfer. Den weitaus größten Teil der gezeigten 1000
Exponate erhielt die Gedenkstätte von Überlebenden sowie von Angehörigen und
Freunden der Häftlinge. Kostbare, über 60 Jahre behütete Erinnerungsstücke,
die sie der Exposition überlassen haben. Auch dafür zollte Morsch seinen
Respekt. Und lud ein in die Ausstellung über eine schockierende “Medizin
ohne Menschlichkeit, eine Medizin der Auslese und Ausmerze, der
Verstümmelung, Vernichtung, der Menschenzüchtung und Experimente”.
Noch im März 1945 trafen hier Transporte mit Sinti und Roma aus Auschwitz
ein, erinnerte Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrates Deutscher Sinti
und Roma. Doch gehören Kopfmodelle und Masken von Häftlingen heute noch in
eine Ausstellung? Er meine: ja. “Sie zeigen den Prozess der Entmenschlichung
in einem Land, die in den KZ ihren Höhepunkt fand”, so Rose. Und er warnte
vor aktuellen Gefahren: Schon wieder reiche “das rassistische Menschenbild
bis in die Mitte der Gesellschaft”, betonte er unter dem Applaus von
Zuhörern. Die Ursachen für den Einzug rechtsextremer Parteien in die
Parlamente auf soziale Probleme und Umbrüche zu reduzieren, “kommt einer
Verharmlosung gleich”. Zugleich appellierte er an die Bundesregierung, das
Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma in Berlin “nicht weiter zu
verzögern”. 1600 Überlebende erwarteten das. Walter Winter ist einer von
ihnen. Auch er erinnerte gestern an das “erst im Mai wiederholte
Versprechen” und warf Berlin Hinhaltetaktik vor.
“Die Bundesregierung verzögert den Bau nicht”, entgegnete
Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt. Neben dem Mahnmal für die
jüdischen Holocaust-Opfer “sollen auch die Sinti und Roma ihre Erinnerung
finden”. Denn angesichts des Wiedererstarkens rechtsradikaler Gruppierungen
sei es besonders wichtig, das Wissen um die Nazi-Verbrechen wachzuhalten.
Salomon Feldberg bleibt bis Dienstag in Berlin und Oranienburg. Dann reist
er über Österreich nach Israel weiter, wo der Sohn und seine drei Enkel
leben. “1995 wie auch heute habe ich hier andere Deutsche gesehen. Die
jetzige Generation ist nicht mehr die von 1933 bis 45. Nur deshalb bin ich
zurückgekommen. Nur deshalb.”
Die Stadt und das Lager
Erstmals widmet sich eine Ausstellung dem Verhältnis zwischen Oranienburg
und dem KZ Sachsenhausen
(Tagesspiegel, Claus-Dieter Steyer) Oranienburg. “Kaninchen schlachten konnte er nicht, aber Menschen.” So
erinnerte sich eine Frau aus Oranienburg an einen ihrer Nachbarn. Jener Mann
wurde der “Eiserne Gustav” genannt — von Häftlingen des KZ Sachsenhausen.
Der SS-Mann fiel hier durch seine Brutalität auf. Mehrere Menschen kamen
durch ihn zu Tode. Gewohnt hat der SS-Mann ganz bieder in einem der
Siedlungshäuser rund um das Lager. Dort gab er sich so, als könne er keiner
Fliege etwas zuleide tun oder ein Kaninchen schlachten. Erst nach Kriegsende
und der Befreiung des Lagers erfuhren die Nachbarn von seinem wahren
Charakter. Das jedenfalls behaupteten sie gegenüber Historikern. Die
Erinnerungen dieser Nachbarn und anderer Zeitzeugen sind die wertvollsten
Zeugnisse in der kürzlich eröffneten Ausstellung der Gedenkstätte
Sachsenhausen “Die Stadt und das Lager”.
Während die Besucher den Berichten der Oranienburger unter Kopfhörern
lauschen, fällt der Blick durch Sehschlitze auf die Umgebung des KZ. Da
stehen Einfamilienhäuser und in der Ferne ein Schornstein. Alles zum Greifen
nah. Zwischen dem Lager und der Stadt kann es also zwischen 1936 und 1945 ni
e eine hermetische Abgrenzung gegeben haben. Im Gegenteil, die
Siedlungshäuser wurden extra für die SS-Angehörigen errichtet. In den
Fabriken und beim Straßenbau arbeiteten Dutzende Häftlingskommandos, die
durch den Ort marschieren mussten. Regelmäßig gab es Führungen durch das KZ,
oft legte sich tagelang beißender Qualm aus dem Krematorium über die Stadt.
Die Ausstellung zeigt überzeugend, wie viel die Oranienburger über die
Vorgänge im KZ gewusst haben müssen. Es gab aber nicht nur Schweigen oder
billigendes Hinnehmen der Zustände. Oranienburger steckten Häftlingen Brot
oder Tabletten zu, nahmen Briefe entgegen oder halfen ihnen oft unter dem
Einsatz ihres eigenen Lebens. Nicht wenige bezahlten diese Menschlichkeit
mit der Einlieferung ins KZ und dem späteren Tod.
Die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten wollte Mitte der neunziger Jahre
die SS-Siedlungen unter Denkmalschutz stellen. Doch ein unerwarteter
Proteststurm verhinderte das, ähnlich erging es dem SS-Truppenlager direkt
am Lager. Ein internationaler Architektenwettbewerb brachte viele Ideen -
die Stadt favorisierte schließlich einen Entwurf von Daniel Libeskind, der
in einem von Wasser umspülten großen Gebäuderiegel viele öffentliche
Einrichtungen und ein Museum unterbringen wollte. Hier verwahrte sich der
Denkmalschutz gegen einen zu starken Eingriff. Das Gelände lag viele Jahre
brach, bis jetzt der Umbau der Kasernen in die neue Polizeifachschule
begann. Dennoch wird in der Stadt die KZ-Gedenkstätte nicht mehr ignoriert
wie in den Jahren nach der Wende. Heute kommen viele Oranienburger zu
Gedenkfeiern, Diskussionsforen oder zur Ausstellung über die Stadt und das
Lager, die dienstags bis sonntags von 8.30 bis 16.30 geöffnet ist.