Buchladen Sputnik (Potsdam, Charlottenstrasse 28)
21.2.2003, um 20 Uhr
mit Dario Azzelini (Autor, Mitglied von Fels)
und Marco Guarella (italienischer Historiker)
Von den Tute Bianchi in Seattle,Prag und Genua zu den Dissobbetienti heute
Azzelii und Guearelle wollen mit ihrem jüngst erschienen Buch einen Überblick über die Entwicklung der sozialen Bewegungen in Italien sowie einen aktuellen Stand
der Situation heute geben. Dazu gibt es einen Film von Oliver Ressler.
Italien. Genua. Geschichte, Perspektiven.
Italien, eine starke Linke mit gesellschaftlicher Verankerung, breite Bündnisse, eine beeindruckende Massenmobilisierung, ein brutales Vorgehen der
Sicherheitskräfte, Schusswaffengebrauch, der Exekution eines Demonstranten, eine Regierung, die an Zynismus kaum zu überbieten ist, fragwürdige Anschläge und dann wieder Hunderttausende auf den Straßen, gegen den Krieg und gegen
die rechte Regierung. Die Ereignisse rund um den G8 in Genua im Sommer 2001 und die linke Mobilisierungsfähigkeit nach dem 11. September und gegen den “Antiterror-Krieg” zeugten Entsetzen, Verwunderung, Erstaunen und Bewunderung
zugleich.
Das vorliegende Buch versucht die Hintergründe zu beleuchten. Mit Kapiteln über die Geschichte der außerparlamentarischen Linken, der Analyse der drei
großen rechten Regierungsparteien Forza Italia, Alleanza Nazionale und Lega Nord, der Darstellung der Ereignisse in Genua und der politischen Folgen, einem Exkurs zur Strategie der Spannung historisch und aktuell, sowie
Interviews mit verschiedenen SprecherInnen (Tute Bianche, Disobbedienti, Cobas, Rifondazione Comunista) der breiten Bewegung, wird das Italien des neuen Jahrtausends aus dem Reich der Mythen heraus geholt.
Disobbedienti
Ein Video von Oliver Ressler, 2002
Das Video “Disobbedienti” thematisiert die Entstehungsgeschichte, politische Grundlagen und Aktionsformen der Bewegung der Disobbedienti (Ungehorsamen)
anhand von Gesprächsausschnitten mit sieben Beteiligten. Die Disobbedienti gingen während den Demonstrationen gegen den G8-Gipfel im Juli 2001 in Genua aus den Tute Bianche hervor. “Tute Bianche” war die Bezeichnung für jene weiß
gekleideten AktivistInnen aus Italien, die ihre durch Schaumstoffe, Reifen, Helme, Gasmasken und selbstgemachte Schilder geschützten Körper als Waffe des zivilen Ungehorsams bei direkten Aktionen und Demonstrationen einsetzten.
1994 traten die Tute Bianche erstmals in Italien in einem gesellschaftlichen Umfeld in Erscheinung, in dem der “Massenarbeiter” schrittweise durch prekäre
postfordistische Beschäftigungsformen abgelöst wurde. Die Tute Bianche beteiligten sich an diesen Arbeitskämpfen wie an den Kämpfen der MigrantInnen für Bewegungsfreiheit, indem sie mit einer speziell entwickelten Aktionsform
der Demontage die Schließung von Abschiebelagern erzwangen. Die Tute Bianche waren Teil der Demonstrationen gegen die WTO in Seattle 1999 und mit Delegationen im Lakandonischen Regenwald in Chiapas und in den besetzten Gebieten Palestinas.
Beim G8-Gipfel in Genua entschieden die Tute Bianche, die identitätsstiftenden und namensgebenden weißen Overalls abzulegen, um in der Multitude der 300.000 DemoteilnehmerInnen aufzugehen. Der Übergang der Tute Bianche zu den Disobbedienti, den Ungehorsamen, ist auch eine Entwicklung des “zivilen Ungehorsams” zum “sozialen Ungehorsam”. Durch das repressive Vorgehen und die
Massaker der Polizeikräfte in Genua wurde die Praxis des sozialen Ungehorsams über die Straße hinaus in die verschiedensten gesellschaftlichen Bereiche hinein getragen. Der Disobbedienti-Sprecher Luca Casarini beschreibt daher im Video die Tute Bianche als subjektive Erfahrung und kleine Armee, die Disobbedienti hingegen als Multitude und Bewegung. Die Disobbedienti setzen
die Politikform der Tute Bianche fort und versuchen, eine gerechtere Legalität von Unten zu schaffen. Es werden weiterhin spektakuläre Aktionen gegen Abschiebelager durchgeführt, wie die im Video gezeigt Demontage des Abschiebelagers in Via Mattei in Bologna am 25. Januar 2002. Dazu kommen Versuche, den “sozialen Ungehorsam” als kollektive Praxis unterschiedlicher Gruppen weiterzuentwickeln, Waren- und Kommunikationsflüsse zu blockieren, Streiks einzelner Gruppen zu generalisieren, Generalstreiks zu planen und durchzuführen. Die Gespräche mit den Disobbedienti wurden im Juli 2002 in Bologna und Genua auf italienisch geführt. Das Video “Disobbedienti” gibt es mit deutscher und englischer Untertitelung.