(MAZ, Jan Simon) ORANIENBURG Die Häftlinge waren in der Stadt präsent, die Häftlingstransporte führten ab
1936 zunächst mitten durch Oranienburg, später vom Bahnhof Sachsenhausen aus
durch die SS-Siedlungen und Wohngebiete. Was wussten die Menschen vor Ort?
Wie haben sie sich dazu verhalten? Gab es in der Diktatur Spielräume? Wie
sahen sie aus, wie wurden sie genutzt? “Die Stadt und das Lager, Oranienburg
und das KZ Sachsenhausen” heißt die neue Dauerausstellung, die am 23.
Oktober im Turm E der Gedenkstätte und des Museums Sachsenhausen eröffnet
wird.
Das Thema bewegt sich zwischen zwei extremen Positionen. Die eine Seite:
“Wir wussten nichts, konnten nichts wissen. Da waren Mauern.” Es ist das
Verstecken hinter der Propaganda der SS, die Häftlinge seien doch alle
Schwerverbrecher gewesen.
Die andere Seite: “Das muss man doch gesehen haben.” Oder die Frage, die ein
niederländischer Besucher in das Besucherbuch der Gedenkstätte schrieb:
“Schlief Europa?”
Beide Positionen kommen der Wirklichkeit nicht nah, sagt Horst Seferens,
Sprecher der Gedenkstätte. Auch die Ausstellung liefert 60 Jahre danach
keine eindeutigen Antworten. Es werden Verhaltensweisen, aber auch
Spielräume aufgezeigt, wo mit Zivilcourage sehr mutig auch gegen den Strom
gehandelt wurde.
Die Historikerin Andrea Riedle, die zwei Jahre als wissenschaftliche
Volontärin in der Gedenkstätte arbeitete, hat die Ausstellung vorbereitet.
Aus vielen Zeitzeugengesprächen hat sie zehn Interviews zu Hörspielen mit
filmischen Sequenzen zusammengestellt. In acht Hör- und Sehräumen, die im
Turm E durch eine Treppe miteinander verbunden sind, werden diese Filme zu
sehen sein. Hinzu kommen einige wenige Exponate. Wie ein Holzspielzeug, das
vermutlich russische Häftlinge einer Oranienburgerin für ihren Sohn
zugeworfen hatten — als Dank für heimlich zugesteckte Lebensmittel. Oder ein
Landschaftsgemälde eines französischen Häftlings im Außenlager Heinkel aus
Flugzeuglack, das dieser einem Zivilarbeiter aus Dank für dessen heimliche
Hilfe übergab.
Die Besucher sollen nach Möglichkeit einzeln die “Hörspiele” auf sich wirken
lassen. Und so Antworten auf die Frage suchen: Wie hätte ich mich verhalten?
Es seien die drei Themen “Abgrenzung”, “Überschneidung”, “Verschmelzung”,
die aufgearbeitet werden, erklärt Riedle weiter den Ausstellungsansatz.
Abgrenzung durch die Propaganda. Die SS versucht zunehmend das Lager von der
Stadt abzugrenzen. 1937/38 werden Mauern gebaut. Ab 1938 ist dort, wo das
Lager ist, auf dem Stadtplan nur noch Wald eingezeichnet. Die Abgrenzung ist
jedoch brüchig, auch von der nahen Wohnsiedlung aus eröffnet sich weiter der
Blick auf den Appellplatz.
Die Berührungspunkte sind die Gefangenentransporte. Die Zwangsarbeiter sind
in der Stadt präsent, ab 1938 im Kanalisationsbau, dann in der
Rüstungsindustrie, unter anderem bei Auer und Heinkel.
Verschmelzung beschreibt Riedle am Beispiel der Oranienburger
Standesbeamten. Bis 1942 verwalten sie den Tod in dem Lager mit. Sie
registrieren bis zu 900 Todesfälle mit fingierten Todesursachen. Dann wird
in dem Lager ein eigenes Standesamt eingerichtet. Von 1936 bis 1945 gab es
in Sachsenhausen insgesamt 200 000 Häftlinge. Die höchste Belegungsphase im
Hauptlager zum Schluss: 35 000 Menschen sind es.