Am 09.11.2005 wurde in der Arbeitsgemeinschaft öffentlich-rechtliche
Rundfunkanstalten (ARD) der Dokumentarfilm Rabatz ausgestrahlt, anschließend
wurde die Dokumentation in den öffentlich- rechtlichen Rundfunkanstalten wie
Phoenix oder RBB mehrmals wiederholt.
Der Dokumentarfilm schildert die Zustände von alternativen und linken
Jugendlichen in Brandenburg am Beispiel von Bad Freienwalde (Oder).
Nach der Ausstrahlung spalteten sich die Meinungen in der Stadt über die
Bedeutung und die Zustände in Bad Freienwalde (Oder). Das Thema beschäftigte
die Medien und die Öffentlichkeit Monate und sorgte für viele zwiespältige
Meinungen. Nach fast einem Jahr steht nun die Frage im Raum, welche
Veränderungen sich in Bad Freienwalde (Oder) vollzogen haben.
Dazu wurde ein Interview mit Sweta, einer der Hauptprotagonistinnen des
Filmes geführt.
Peter: Welche Auswirkungen sollte der Film in der Bevölkerung nach deiner
Meinung haben ?
Sweta: In erster Linie hat der Film eigentlich keine bestimmte Zielsetzung
wie die Anprangerung der Stadt o.ä. verfolgt, auch wollten wir uns nicht als
die totalen MärtyrerInnen darstellen. Obwohl uns weder das eine noch das
andere irgendetwas gebracht hätte, mussten wir uns diesen Vorwurf später oft
genug anhören… Das Ziel des Filmes war es eine Dokumentation zu machen.
Mit diesem Ziel trat die Filmemacherin Anja Kretschmar auch an uns heran, es
ging darum den Alltag linker oder alternativer Jugendlicher in Brandenburg
zu zeigen, da es über den rechter Jugendlicher genügend Material gibt, aber
das Leben nichtrechter Jugendlicher eher wenig Beachtung bekam bzw. bekommt.
Im Nachhinein hatte unser Verein sicherlich sehr viel Glück durch diese
Dokumentation mehr öffentlichen Druck auf die Stadt Bad Freienwalde ausüben
zu können, als wir uns sonst hätten erhoffen können. Sicher haben wir es
auch dem Film zu verdanken, dass wir unsere Räume ‑wenn auch nicht zu den
gewünschten Konditionen- behalten konnten.
Peter: Und welche Auswirkungen hatte der Film in der Bevölkerung ?
Sweta: Die Auswirkungen in der Bevölkerung waren eigentlich nicht sehr
vielfältig, wie sie sich gezeigt haben dagegen schon:
Der eine Teil der Bevölkerung ‑das war der Großteil- war auf eine mir
unbegreifliche Art und Weise schwer verletzt oder getroffen von diesem Film
und fühlte sich persönlich angegriffen. Da hieß es dann, dass wir die
„schöne Kurstadt“ nur in den Dreck ziehen wollten, dass es hier ja keine
Nazis gäbe, dass wir übertreiben würden etc. Diese Empörung fand, soweit ich
das mitbekommen habe, in allen Schichten des gesellschaftlichen Lebens
statt: auf der Arbeit oder auch in der Zeitung – dort wurde zuerst durch
LeserInnenbriefe, später durch einen langen Artikel dem Unmut über uns
Ausdruck verliehen, unter anderem mit den Abschlussworten „Armes
Deutschland“. Am Gymnasium wurde die Dokumenation mehrmals pro
Sek.-II-SchülerInkopf im Unterricht geguckt. Es wurde viel darüber
diskutiert und nicht nur von MitschülerInnen mussten sich Vereinsmitglieder
Vorwürfe oder Beleidigungen anhören.
Der kleinere Bevölkerungsteil war hauptsächlich außerhalb Bad Freienwaldes
zu finden (und wenn es nur in der nächsten Stadt Wriezen war). Hier wurden
sich Fragen gestellt wie „Ist das denn wirklich so schlimm?“ Diese Menschen
waren vielfach nicht das typische Naziopfer, also schon lange nicht mehr
jugendlich oder alternativ gekleidet, langhaarig oder ähnliches, waren
deshalb bezüglich der Naziproblematik in Bad FRW und Umgebung nicht auf dem
neusten Stand, aber dennoch offen für die Kritik an den Zuständen und
fragten daher erst einmal nach statt sich ‑wie der restliche Teil der
Bevölkerung- Scheuklappen aufsetzten.
Peter: Welche Auswirkungen habt ihr in eurem Umfeld direkt nach der
Ausstrahlung erlebt ?
Sweta: Es gab plötzlich viele Jugendliche, die wir sonst für alternativ oder
bauchlinks gehalten hatten, die sich auf einmal darüber empörten wie es denn
sein könne, dass „die schöne Kurstadt“ in ein angeblich so schlechtes Licht
gerückt wurde. Da gab es doch einige Diskussionen mit Jugendlichen, die
schon regelmäßige BesucherInnen von Veranstaltungen der BFA waren. Teilweise
gehörten diese Leute auch zu denjenigen, die in Unterrichtdiskussionen
Mitglieder von uns angegriffen hatten. Da gab es dann auch Gerüchte wie z.B.
dass es nach der Ausstrahlung von „Rabatz“ viele Stornierungen im Moorbad
gegeben hätte — was nachweislich Blödsinn ist.
Im Nachhinein folgten auch ein paar private Probleme, da manche von uns
diesem Druck nicht standhalten konnten oder wollten. Viel Unterstützung oder
Mut machenden Zuspruch erfuhren wir allerdings weder aus der
Durchschnittsbevölkerung noch aus privaten Umkreisen.
Peter: Welches Ergebnis seht ihr ein Jahr nach „Rabatz“? Hat sich etwas
verändert?
Sweta: Im Großen und Ganzen nicht. Es fand zwar zweimal ein Treffen des
sogenannten „Aktionsbündnis für ein weltoffenes und tolerantes Bad
Freienwalde statt, wozu unter anderem der Bürgermeister geladen hatte, aber über
halbtheoretische Blabbeleien gingen die Ergebnisse bisher nicht hinaus,
sodass diese Stadtaktivität mehr Alibifunktion als Aktionscharakter besitzt.
Das Konzept des Offis bzw. SPIs hat sich bisher auch nicht sonderlich oder
sagen wir mal nennenswert gewandelt, denn auch ein Konstantin Wecker Konzert
mit Titel „Nazis raus aus unserer Stadt“ ist in meinen Augen eher Alibi,
wenn gleichzeitig Jungnazis als Praktikanten oder ähnliches genutzt werden,
ihnen ein E‑Learningkurs angeboten wird und politische Auseinandersetzung so
gut wie gar nicht geschieht.
Ansonsten hat sich gezeigt, dass es viele Jugendliche gibt, die die NPD nur
allein deshalb akzeptieren, dass sie nicht verboten ist und den Status einer
demokratischen Partei genießt – dass sie trotzdessen menschenverachtende
Propaganda betreibt und eine demokratische Gesellschaft abschaffen will,
bleibt von ihnen völlig unbeachtet. Mit dieser allgemein verbreiteten
Meinung wird es auch schwieriger, Jugendlichen klarzumachen, warum wir auch
mit NPD-sympathisierenden Menschen nichts zu tun haben wollen und diese von
Veranstaltungen sowie aus unseren Vereinsräumen ausschließen.
Peter: Welcher Handlungsbedarf liegt noch vor? Welche Entwicklungen sollten
die Mitmenschen noch vollziehen?
Sweta: Als erstes empfinde ich es als überaus wichtig, dass sich
Institutionen wie Stadt oder Schule klar gegen rechts positionieren und dies
nicht nur tun, um Ruhe zu haben, sondern sich auch dementsprechend verhalten
und beispielsweise alternative oder linke Aktionen unterstützen und fördern
statt ein vorhandenes Probleme mit rechts totzuschweigen und uns
Störenfriedtum vorzuwerfen.
Darüber hinaus müssen die Menschen aber auch realisieren, dass Nazis, die
nun einmal ein menschenverachtendes Weltbild haben, keine Räume zur
Verfügung gestellt werden sollten, damit sie dieses weiter verbreiten können
– egal, ob dieser Nazi jetzt der nette Nachbarsjunge, die Obstverkäuferin,
der kulante Mathelehrer oder der ehemalige beste Freund oder Tante Gudrun
ist. Es hilft nun einmal nichts, sich pauschal gegen Nazis auszusprechen,
aber dennoch im Freundeskreis, in der Familie, am Arbeitsplatz, im
Fußballverein etc. tausende von Ausnahmen zu machen und Entschuldigungen a
la „…aber mit Olli spiel’ ich doch schon seit 10 Jahren Posaune“, zu
gebrauchen.
Es sollte nicht vergessen werden, dass auch diese passive Akzeptanz Nazis
als Unterstützung dient und im Ernstfall auch den Tod eines Menschen
bedeuten kann, au
ch wenn das jetzt hart oder überspitzt klingt.
Peter: Wie geht es jetzt mit dir weiter?
— Biografie?
— Drogen und Alkoholsucht?
— Nacktaufnahmen für den Playboy?
Was ich meinte, welche Zukunftspläne hast du?
Sweta: (Lautes Lachen). Nachdem ich mein Abitur im Juni gemacht habe, bin
ich mittlerweile nach Berlin gezogen und habe ein freiwilliges ökologisches
Jahr leicht außerhalb von Berlin begonnen. Trotzdem versuche ich den Kontakt
nach Bad FRW nicht abreißen zu lassen und die gesellschaftspolitischen
Entwicklungen vor Ort zu verfolgen, eventuell mitzugestalten, was von außen
natürlich etwas schwierig und für die Kontinuität links-alternativer Arbeit
schade ist, dennoch habe ich die Hoffnung, dass eine nichtrechte Jugendszene
noch nicht völlig verloren ist, auch wenn sie hier leider nicht gerade
gefördert wird oder gewünscht zu sein scheint.
Peter: Als letztes: Siehst du einen Zusammenhang zwischen „Rabatz“ und der
NPD-Ortsgruppengründung in Bad Freienwalde (Oder)?
Sweta: Das ist eine schwere Frage. Ich denke nicht, dass es da einen
kausalen Zusammenhang gibt. Bad Freienwalde war auch zuvor bei Nazis aus
z.B. Eberswalde oder Berlin bekannt und hatte auch damals bereits NPD- oder
MHS-Mitglieder. Auch dass einige Nächte vor den Bundestagswahlen
PDS-Schilder mit Hakenkreuzen und SS-Runen beschmiert worden sind, wird
wenig mit der Ausstrahlung der Dokumentation einige Tage zuvor zu tun haben.
Schließlich gab es mit Nazis nicht erst ein Problem, seit wir es öffentlich
benannten, sondern schon lange davor. Daher ist es eher verwunderlich, dass
es zum Zeitpunkt der Dreharbeiten noch keine NPD-Ortsgruppe gab und sich
eine solche erst Ende diesen Jahres gründet.
Sicherlich dürfte es aber nicht gerade abschreckend gewirkt haben, wenn der
Bürgermeister sagt, dass es in dieser Stadt noch mehr als dieses „kleine Problemchen“
gäbe, womit gemeint war, dass wir als linksalternativer Verein eventuell
unsere Räume verlieren, was quasi als eine kleine Einladung an rechte Kräfte
wie beispielsweise die NPD gewertet werden könnte.
Das Interview wurde von Peter K. am 02.10.2006 geführt.